Władysław Szpilman
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Die Szene, mit der Roman Polański sein Meisterwerk „Der Pianist“ beginnt, ist eine der bewegendsten des Films. Die Titelfigur, gespielt von Adrien Brody, sitzt im Studio des damaligen polnischen Rundfunksenders „Warszawa II“ (nach dem Krieg das landesweite zweite Programm von Polskie Radio) am Flügel und spielt das „Nocturne cis-Moll“ von Fryderyk Chopin. Man schreibt den 23. September 1939, drei Wochen nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Polen. Während das Stück über den Äther geht, wird in Warschau heftig gekämpft. Die Stadt wird von den Deutschen beschossen. Bomben zerstören die umliegenden Gebäude. Im Studio fällt der Putz von der Decke. Draußen sind immer wieder Detonationen zu hören. Explosionen lassen die Fensterscheiben bersten.
„Ich weiß selber nicht mehr, wie ich zum Rundfunk gelangt bin. Ich sprang von Hauseingang zu Hauseingang, versteckte mich und lief wieder auf die Straße hinaus, wenn ich glaubte, in unmittelbarer Nähe kein Pfeifen von Geschossen zu hören. In der Tür zur Rundfunkanstalt begegnete ich Präsident Starzyński. Er war ungepflegt, unrasiert; in seinen Augen und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tödlicher Ermattung. Seit Tagen hat er nicht geschlafen. Er war die Seele der Verteidigung, der eigentliche Held der Stadt. Auf seinen Schultern ruhte die ganze Verantwortung für das Schicksal Warschaus“, erinnert sich Władysław Szpilman in seiner Autobiografie an die Verteidigung der Stadt im September 1939.[1] Jahre später griff der Pianist in einem Interview für den Polnischen Rundfunk die Geschehnisse dieses Tages noch einmal auf und sagte: „Die Artillerie feuerte stark und visierte, wie mir schien, mit voller Absicht das Funkhaus an. Ich erschrak. Olgierd Straszyński, der die Mikrofone im Studio richtete, wollte den Flügel näher am Fenster platzieren. Als ich ihn bat, ihn mehr in den Raum zu stellen, sagte er, ‚was macht das schon für einen Unterschied, Herr Władysław. Wenn Sie gläubig sind, beten Sie, denn wenn hier ein Schrapnell detoniert, bleibt von uns sowieso nichts mehr übrig.‘ Also spielte ich, Chopin, eine halbe Stunde lang.“[2]
Es war das letzte Live-Konzert des Radios im besetzten Warschau. Noch am selben Tag zerbombten die Nazis kurz nach 15 Uhr das Elektrizitätswerk im Stadtteil Powiśle, das die Rundfunkanstalt mit Strom versorgte. Der Sender, der in den letzten Wochen vor allem die Widerstandskraft der Warschauer:innen aufrecht erhalten hatte, verstummte. Fünf Tage später, am 28. September 1939, ergab sich die Stadt.
Die Macht der Musik
Die Filmszene aus dem Aufnahmestudio hat Symbolcharakter, indem sie der zerstörerischen Kraft des Krieges die Macht der Musik gegenübergestellt, die alles übersteht. Und so war es auch die Musik, die Szpilman die Hölle des Krieges aushalten ließ und die ihn im wahrsten Sinne des Wortes gerettet hat. Als ihn dann sein Sohn Andrzej Jahre später fragte, was ihn in den Trümmern Warschaus am Leben hielt, gab es für Władysław Szpilman nur eine Antwort und die lautete: „Musik. Nur Musik, und zwar in jeder Hinsicht. Nicht nur als Flucht, sondern als Ort, an dem man sich mit seinen Gedanken verstecken konnte.“[3]
Musik begleitete Władysław Szpilman seit seiner Kindheit. Er kam am 5. Dezember 1911 in einer jüdischen Familie in Sosnowiec als ältestes von vier Kindern der Eheleute Samuel und Estera, geb. Rappaport, zur Welt. Der Vater war Geiger im Opernorchester des Polnischen Theaters in Kattowitz (Teatr Polski w Katowicach), die Mutter Pianistin am Stadttheater Sosnowiec (Teatr Miejski w Sosnowcu). Da sie auch Klavierlehrerin war, erhielt Władysław seine ersten Unterweisungen von ihr. Nach der Volksschule besuchte Szpilman die Handelsschule für Knaben direkt im Nachbarhaus der Familie in Sosnowiec, schloss sie aber nicht ab. Stattdessen ging er nach Warschau, um an der Chopin-Musikhochschule (Wyższa Szkoła Muzyczna im. Fryderyka Chopina) bei Józef Śmidowicz Klavier sowie bei Michał Biernacki Musiktheorie und Harmonielehre zu studieren.[4]
[1] Szpilman, Władysław: Der Pianist. Mein wunderbares Überleben. Aus dem Polnischen von Karin Wolff. Vorwort von Andrzej Szpilman. Anhang von Wilm Hosenfeld. Mit einem Essay von Wolf Biermann, List Taschenbuch, Ullstein Buchverlag, 7. Auflage, Berlin 2020, Seiten 30 f.
[2] Ostatni dzień nadawania Polskiego Radia we wrześniu 1939. Chopin wśród huku bombardowania [Der letzte Sendetag des Polnischen Rundfunks im September 1939. Chopin mitten im Getöse der Bomben], in: Polskie Radio. Historia, letzte Aktualisierung 23.09.2022, https://www.polskieradio.pl/39/156/Artykul/2372032,Chopin-wsrod-huku-bombardowania-Ostatni-dzien-nadawania-Polskiego-Radia-we-wrzesniu-1939 (zuletzt aufgerufen am 03.10.2022).
[3] Marcin Zasada im Gespräch mit Andrzej Szpilman: O życiu wielkiego pianisty Władysława Szpilmana opowiada jego syn (część 1) [Über das Leben des großen Pianisten Władysław Szpilman erzählt sein Sohn (Teil 1)], in: Dziennik Zachodni, 23.12.2016, https://plus.dziennikzachodni.pl/o-zyciu-wielkiego-pianisty-wladyslawa-szpilmana-opowiada-jego-syn-andrzej-szpilman-czesc-i/ar/11605446 (zuletzt aufgerufen am 16.09.2020).
[4] Kosińska, Małgorzata: Władysław Szpilman, in: Culture.pl, Oktober 2006, https://culture.pl/pl/tworca/wladyslaw-szpilman (zuletzt aufgerufen am 16.09.2020).