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Kollektive Vergessenheit oder Raum als Ausdruck des Bewusstseins des Künstlers? Karol Broniatowskis Skulptur fotografisch dokumentiert von Marian Stefanowski

Das Mahnmal Gleis 17 an der Grunewaldrampe erinnert an die Deportation der Juden aus Berlin

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  • Die Gegebenheiten vor der Errichtung des Mahnmals von Karol Broniatowski, 1989 - Die Gegebenheiten vor der Errichtung des Mahnmals von Karol Broniatowski, 1989
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  • Das Atelier von Karol Broniatowski, 1989 - Das Atelier von Karol Broniatowski, 1989
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  • Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin, 1990 - Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin, 1990
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  • Die Enthüllung des Mahnmals, 18.10.1991 - Die Enthüllung des Mahnmals, 18.10.1991
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  • Heinz Galinski, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, während der Enthüllung des Mahnmals, 18.10.1991 - Heinz Galinski, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, während der Enthüllung des Mahnmals, 18.10.1991
  • Die Enthüllung des Mahnmals, 18.10.1991 - Die Enthüllung des Mahnmals, 18.10.1991
  • Das Mahnmal für die deportierten und ermordeten Juden, am Gleis 17 des Bahnhofs Berlin-Grunewald, 1991 - Das Mahnmal für die deportierten und ermordeten Juden, am Gleis 17 des Bahnhofs Berlin-Grunewald, 1991
  • Das Mahnmal für die deportierten und ermordeten Juden, am Gleis 17 des Bahnhofs Berlin-Grunewald, 1991 - Das Mahnmal für die deportierten und ermordeten Juden, am Gleis 17 des Bahnhofs Berlin-Grunewald, 1991
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  • Karol Broniatowski vor dem Mahnmal für die Ermordung und Deportation der Juden aus Berlin, 1991 - Karol Broniatowski vor dem Mahnmal für die Ermordung und Deportation der Juden aus Berlin, 1991
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  • Das Mahnmal, Sommer 2019 - Das Mahnmal, Sommer 2019
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Das Mahnmal Gleis 17 an der Grunewaldrampe erinnert an die Deportation der Juden aus Berlin
Das Mahnmal Gleis 17 an der Grunewaldrampe erinnert an die Deportation der Juden aus Berlin

Ich aber dachte damals
An die Einsamkeit der Opfer.
Daran, dass, als Giordano
Den Scheiterhaufen bestieg,
Er keine einzige Silbe,
Menschliche Silbe gefunden,
Von jener Menschheit, die weiter-
Lebte, Abschied zu nehmen.

Czesław Miłosz, Campo di Fiori[1]

 

In Extremsituationen ist sogar die Angst keine Entschuldigung und Passivität wird zum Verbrechen (…) Diese Todesfabriken, in denen Massenmorde begangen wurden, standen für die Verachtung menschlichen Lebens. Und diese Verachtung hat überdauert. (…). Nur dass man heute der Jugend wieder beibringen muss, dass das Leben das erste und kostbarste Gut ist.

Vortrag Marek Edelmans beim Kolloquium „Pamięć żydowska, pamięć polska” [Jüdische Erinnerung, polnische Erinnerung], Tygodnik Powszechny, 1995

 

Die Toten sind einzeln zu zählen (...)

Christian Boltanski

 

Der tragischste Ausdruck der völkischen deutschen Politik ist die Judenvernichtung. Das Wort „Holocaust” (holos - ganz, kaustos - verbrannt) kam in den 1960er Jahren im allgemeinen Sprachgebrauch auf. Heute können wir die Etappen der Umsetzung der „Endlösungspläne“ genau zurückverfolgen, obgleich, wie Nora Levin schreibt, „das Verstehen dessen, was geschah, vielleicht niemals möglich ist.” Die Analyse des kollektiven Gedächtnisses deckt die Neigung des Menschen zur Verleugnung und Verdrängung unbequemer Tatsachen auf, wobei Berichte aus der Vergangenheit nur dann glaubhaft sind, wenn sie wahrhaftig sind. Wenn die Vergangenheit also die Zeit ist, die uns definiert und unsere Phantasien in denselben Hirnregionen wie die Erinnerung aufgebaut werden, werden wir im Erdenken von Zukunftsszenarien je nach unseren Vorstellungen der Vergangenheit nicht entkommen können. Die zunehmenden populistischen und faschistischen Tendenzen erschweren die Erforschung der Geschichte sicher auf manchen Ebenen, doch sie ist nichtsdestotrotz notwendiger denn je. Betrachten wir den Holocaust als Scheitern der europäischen Zivilisation, dürfen wir die heutige toxische Faszination für den Nationalismus nicht verschweigen.

Die frommen Rabbiner lehren, dass das Streben des Menschen nicht darin bestehen sollte, auf eine Welt zu warten, die noch kommen mag, sondern darin, das Leben aktiv anzugehen, um zunächst sich selber, dann sein nächstes Umfeld und schließlich die ganze Welt so zu verbessern und zu entwickeln, dass der Mensch, der aus der Welt scheidet, sie ein Stück weit besser hinterlässt als er sie bei seiner Ankunft vorgefunden hat. Die mystischen Juden glauben daran, dass die Seele, die vor Gott tritt, fünf Fragen hört, deren vierte lautet: Hast du dein Leben in dem Glauben gelebt, die Welt verbessern zu können?

Die von Bildern beherrschten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts sind auf sensible Künstler angewiesen, die fähig sind, die Wirklichkeit so darzustellen, dass sie die gesellschaftlichen Barrieren der Gleichgültigkeit durchbricht, die Komfortzone betritt und sie zerstört, um mit dem Problem der potenziellen Gefahren zu konfrontieren. Die medial differenzierte Kunst, insbesondere die sogenannte kritische Kunst, weicht dem Dialog mit der Wirklichkeit nicht aus, doch ihre Aufgabe besteht nicht darin, fertige Antworten zu liefern, sondern unbequeme Fragen zu stellen. Sich der ewigen Trauer bewusst zu sein und den Holocaust nicht zu vergessen, ist Teil der Erinnerungskultur. Sie ist Pflicht eines jeden Europäers. Umberto Eco fragt in seinem Roman „Das Foucaultsche Pendel“ direkt: können wir wirklich die Vergangenheit lesen oder scheint es nur so?

Von Gleis 17 am Bahnhof Berlin-Grunewald, den der Rabbiner Walter Rothschild „SS-Bahnhof” nannte, wurden von Oktober 1941 bis März 1945 in 186 Zügen über 50.000 Berliner Juden zu verschiedene Vernichtungsorten im Osten Europas deportiert (Osttransporte). Der erste Transport ging am 18. Oktober 1941 Richtung Łódź, der letzte am 5. Januar 1945 nach Sachsenhausen. Die Geschichte hat diesen Ort zu einem der traurigsten Orte in Berlin gemacht.

Tatsächlich raubt der Krieg den Menschen die Erinnerung, aber kein Krieg endet mit der Unterzeichnung eines Friedensvertrages: die Erinnerung steckt weiter tief in den Menschen und die Geschichte lehrt, dass … sie nichts lehrt. Die Deutschen, die für ihre Verherrlichung der Rationalität und der Effektivität bekannt sind, hatten trotz ihrer moralischen Verpflichtung und des Wahrheitsgebots lange keine Vorstellung davon, wie sie der Opfer der Verbrechen würdevoll gedenken wollen. 1953 wurde an einem Wirtschaftsgebäude der Deutschen Bahn, die als Transportunternehmen eine unrühmliche Rolle spielte, eine Gedenktafel angebracht, deren Inschrift konkret und prägnant auf die Naziverbrechen verwies. Es war das einzige öffentliche Ereignis dieser Art im geteilten Berlin des Kalten Krieges, das nur auf zwei offiziellen Fotographien festgehalten wurde; dank der Bemühungen des Aktiven Museums wurden 2016 weitere 25 Fotos eines unbekannten Autors wiederentdeckt. Die Entstehung der Erinnerungsorte in Berlin hat eine lange und turbulente Geschichte.

1987 wurde die zu Beginn der 80er Jahre gestohlene Erinnerungstafel aus dem Jahr 1953 durch eine neue ersetzt, zudem wurde im selben Jahr auf Initiative der evangelischen Gemeinde eine weitere Tafel auf dem Platz vor dem Bahnhofsgebäude enthüllt. Dies waren jedoch immer noch Ersatzhandlungen, die den zunehmenden intensiven Bemühungen um dauerhafte Erinnerungsspuren im öffentlichen Raum der Stadt keine Rechnung trugen. Die Forderungen danach haben nicht nur jahrelang die Angehörigen der Ermordeten gestellt, sie kamen auch von allen Menschen guten Willens, von einflussreichen Politikern wie zum Beispiel Ignatz Bubis, von Intelektuellen wie dem liberalen Rabbiner Walter Rothschild, von Journalisten und Künstlern, darunter Wolf Biermann. Nach vielen Debatten, die nach 1980 heftiger wurden, in Zeiten, in denen die dunkelste Seite der Geschichte andauernd in leere Versprechungen lief, kam es häufig zu scharfen, emotional aufgeladenen Konfrontationen.[2] Ende 1987, Anfang 1988 lobte das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf einen Wettbewerb zur Errichtung eines Mahnmals für die Deportierten aus und vergab schließlich den ersten Preis an das Projekt des Bildhauers Karol Broniatowski und des Architekten Ralf Sroka.

 

[1] Czesław Miłosz, Gedichte 1933-1982. In der Übertragung von Karl Dedecius und Jeannine Łuczak-Wild. Mit einem Nachwort von Aleksander Fiut, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 19952, S. 24, [Anm. d. Übers.]

[2] Antoine Saint-Exupery, Der kleine Prinz.

Karol Broniatowski verlieh seiner Arbeit keine epischen Züge, die für solche Projekte so charakteristisch sind, und er hat sie auch nicht als dekorative Kunst inszeniert, sondern er wählte einen asketischen, reduktionistischen Stil. Aus der räumlichen Struktur des stummen Zeugen der Ereignisse, einem 20 Meter langen rohen Betonblock, der dort vorgefunden wurde, wo einst die Deportierten die Bahnrampe erreichten, hob er scharfe, dreidimensionale Silhouetten von Menschen heraus, die auf die andere Seite schreiten. Oder sind es vielleicht Schatten? Oder gar nur Spuren von Schatten? Auf jeden Fall sind es Menschen, denen ihre Sichtbarkeit genommen ist.

Mit dem Mahnmal der Deportierten schuf der Bildhauer eine Metapher für die Offenbarung der destruktiven Kraft der Geschichte, in dem er einen Negativabdruck wählte und die Untertreibung als Form der Wiederherstellung der aus der Erinnerung verdrängten Orte einkalkulierte. Die Fertigstellung des Mahnmals fand 1991 statt. Seit dieser Zeit fügt sich das Monument in das Stadtbild der Metropole ein, als eine dem Betrachter überlassene Nachricht: Leere bleibt Leere. Um ein neues Weltbild zu schaffen, bedarf es einer Anstrengung.

In den 90er Jahren wurde die Kunst von Skulpturen und Installationen dominiert. Piotr Rypson erklärt dieses Phänomen mit dem Bedürfnis kritischer Künstler nach der Erfahrung des „realen” Raums. Wenn wir also die Kunst als Tiegel betrachten, in dem sich alles vermischt und alles verschmilzt, in dem der Versuch, die Intimität von der öffentlichen Meinung sowie das Wissen von der Sensibilität zu trennen, aussichtlos ist, sollte die deklarierte Realität als anzustrebendes Bewusstsein des Künstlers für den sozialen Raum verstanden werden. Broniatowski hat den Raum, in den er sein Kunstwerk setzte, das auf der visuellen Ebene nichts von der vergangenen Wirklichkeit enthält und dadurch suggestiv vom Schicksal der Menschen berichtet, als Möglichkeit zu einem Dialog betrachtet, der gesellschaftliche Prozesse einleiten kann. Denkmäler bzw. Gedenkstätten sind zweifellos eine Form öffentlicher Kunst, deren edukative Aufgabe nicht überschätzt werden kann. Solche Beispiele überleben bis in die heutige Zeit, in der moderne Techniken visueller Persuasion zu einer Verdichtung aller Arten von Überlieferungen führen und die Kunst immer weniger sichtbar oder, wen man so will, mehr in das Leben eingebunden ist. Nur ein paar Schritte weiter von dem letzten Weg zur Rampe, den Broniatowski in Szene gesetzt hat, wurde ein von der Nachlassverwalterin der Deutschen Reichsbahn gestiftetes Mahnmal für die deportierten Juden Berlins, besser bekannt als Gleis 17, errichtet. Die Autoren Nicholas Hirsch, Wolfgang Lorch und Andrea Wande haben ihr Projekt auf dem ehemaligen Verladegleis umgesetzt, indem sie auf 186 gusseisernen Bahnschwellen die Daten, Bestimmungsorte und die Opferzahlen der jeweiligen Transporte eingravieren ließen.

Toblers erstes Gesetz der Geographie besagt, dass alles miteinander verbunden ist, doch Dinge, die nahe beieinander sind, hängen mehr zusammen als Dinge, die weiter auseinanderliegen. Dabei sollte getreu dem Motto „weniger heißt mehr“ zwischen dem physischen Raum und der Architektur eines Kunstwerks eine gesunde Balance bestehen; die Wahrnehmung des Außerachtgelassenen ist wichtig, nur möglicherweise „ist das Wichtigste für das bloße Auge unsichtbar.”[3]

Die fotografische Dokumentation ist eine wichtige Ergänzung des bildhauerischen Schaffens von Karol Broniatowski. Marian Stefanowski gehört zu den Fotografen, für die der Inhalt eines Bilds in Anbetracht seiner metaphorischen Botschaft unter bestimmten Voraussetzungen zweitrangig ist. Die fotografische Dokumentation des Mahnmals für die deportierten Juden Berlins, deren didaktische „Poetik“ einer Reportage gleicht, bekräftigt den künstlerischen Gestus des Künstlers.

Die moralischen Dilemmata lassen sich auf verschiedene Art und Weise lösen, da jedes Kunstwerk, das auf emotionale Stereotype verzichtet, ein suggestives Informationsmodul in sich trägt. Die fotografische Reportage hat sich schon lange dahingehend weiterentwickelt, dass ihr ursprünglicher Anspruch, lediglich Dokument und Informationsquelle zu sein, verloren gegangen ist. Den dokumentarischen Fotografien von Marian Stefanowski fehlt es nicht an Deutlichkeit. 

Indem der Fotograf den Fokus des Betrachters auf die komplizierten, neuen und individuellen Wahrnehmungswelten lenkt, zwingt er ihn zu voller Aufmerksamkeit. Es reicht, sich das Bild genau anzuschauen und es zu analysieren, um festzustellen, dass die Fotografie, die Wirklichkeit wiedergibt, unser Sehen auf bestimmte Weise verändert. Wir wissen nicht, ob sich der Bildhauer mit seinem Betonmonument auf die Klagemauer, auf ihren Schrei nach Gerechtigkeit bezog. Oder vielleicht auf die Finsternis des Schicksals, die Apocalipsis cum figuris? Allerdings ermächtigt die Art und Weise, in der das Monument fotografiert wurde, den Betrachter dazu, die Welt auch so zu betrachten, wie der Künstler es ihm vorschlägt. Ist der Fotograf in diesem Fall ein „Diagnostiker“ oder nur ein aufmerksamer Dokumentar? In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts bedienten sich die konzeptuellen „Metro Pictures“-Fotografen in Amerika ihres Mediums zur gesellschaftlichen und politischen Kritik: Sie stellten die avantgardistischen Strategien eines originären Kunstwerks durch Fotografieren und „Refotografieren“ in Frage. Im Falle des Künstlerpaars Broniatowski und Stefanowski haben wir es mit einem Gegenphänomen zu tun: mit der Bestätigung und der Illustration der Idee. Serien aus dutzenden Bildern, die sich zu einer filmischen Erzählung entwickeln, die zugleich hermetisch und in all ihren Fragmenten zugänglich ist, ist für den Dokumentarfotografen eine ebenso interessante Ausdrucksform wie die klassische Fotografie. Indem er sich für diesen Ansatz entschied, betrat er mutig das (verminte) Gebiet des Journalismus: die Bildserien ließen eine simultane Vision, ein komplexes Problembild, sowie zugleich, eine metaphorische Übermittlung der Inhalte zu, ohne in Sensationshascherei zu verfallen. Die fotografischen Arbeiten von Stefanowski erfüllen damit die notwendigen Nutzfunktionen, behaupten sich jedoch immer wieder als reflektierende, nachdenkliche und distanzierte künstlerische Fotografien.

In Zeiten gespaltener Identitäten ist die Fähigkeit des Menschen zur Synthese und zum analytischen Denken, das von stereotypen Interpretationen der Vergangenheit befreit, von größter Bedeutung. Wenn sich die Träume von einem gemeinsamen Europa in Alpträume verwandeln, sollten sowohl die Kunst als auch der Journalismus viel für die Verbreitung unbequemer historischer Wahrheiten tun.

Die Konsequenzen des Holocaust tragen wir alle.

 

Magda Potorska, September 2019

 

Literatur:

Eine zusätzliche Anregung beim Verfassen des Textes stellte für mich die Lektüre der regelmäßig erscheinenden Artikel in der Wochenzeitschrift „Tygodnik Powszechny” dar, insbesondere der Grundsatzartikel von Professor Jan Błoński unter dem Titel „Biedni Polacy patrzą na getto” [Arme Polen schauen auf das Ghetto] (Tygodnik Powszechny 2/1987). 

Wertvolle Hinweise und Informationen verdanke ich den Publikationen des Aktiven Museums.

 

[3] Wir haben das Jahr 2019 und mittlerweile hat Berlin ihre „Hausaufgaben gemacht”. Weltbekannte Künstler haben viele wundervolle Gedenkstätten erschaffen. Die lange und turbulente Geschichte ihrer Entstehung hat aber auch ihre… Gegenwart. Interessant wäre zum Beispiel die Rolle der Deutschen Bahn im Hinblick auf die Wanderausstellung „Zug der Erinnerung “ zu beleuchten. Dies würde jedoch den Rahmen dieses Textes sprengen.