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Polens Weg in die Freiheit auf den SPIEGEL-Covern 1980 bis 1990

Titelseite DER SPIEGEL 34/1980

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  • Abb. 1: TIME, 20. Juli 1931 - Titelseite des Magazins TIME, 20. Juli 1931
  • Abb. 2: News Review, 19/1939 - Titelseite des Magazins News Review, 19/1939
  • Abb. 3: DER SPIEGEL 1/1947 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 1/1947
  • Abb. 4: DER SPIEGEL 1/1955 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 1/1955
  • Abb. 5: DER SPIEGEL 51/1970 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 51/1970
  • Abb. 6: DER SPIEGEL 43/1978 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 43/1978
  • Abb. 7: DER SPIEGEL 23/1980 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 23/1980
  • Abb. 8: DER SPIEGEL 34/1980 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 34/1980
  • Abb. 9: DER SPIEGEL 35/1980 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 35/1980
  • Abb. 10: DER SPIEGEL 36/1980 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 36/1980
  • Abb. 11: DER SPIEGEL 45/1980 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 45/1980
  • Abb. 12: DER SPIEGEL 46/1980 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 46/1980
  • Abb. 13: DER SPIEGEL 50/1980 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 50/1980
  • Abb. 14: DER SPIEGEL 41/1981 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 41/1981
  • Abb. 15: DER SPIEGEL 52/1981 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 52/1981
  • Abb. 16: DER SPIEGEL 2/1982 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 2/1982
  • Abb. 17: DER SPIEGEL 10/1982 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 10/1982
  • Abb. 18: DER SPIEGEL 51/1983 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 51/1983
  • Abb. 19: DER SPIEGEL 5/1985 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 5/1985
  • Abb. 20: DER SPIEGEL 52/1990 - Titelseite des Magazins DER SPIEGEL 52/1990
Titelseite DER SPIEGEL 34/1980
Titelseite DER SPIEGEL 34/1980

Die erste Ausgabe des Magazins erschien Anfang Januar 1947 und hatte nur 28 Seiten. Dabei war der SPIEGEL[2] von Anfang an als illustriertes Magazin angelegt, wobei das wöchentlich erscheinende US-amerikanische Nachrichtenmagazins „Time” und die britische „News Review” als Vorbilder nicht zu verleugnen sind. Britische Offiziere, die den Entstehungsprozess des SPIEGEL-Magazins überwachten, stellten den jungen SPIEGEL-Redakteuren beide Zeitschriften als Ansichtsexemplare zur Verfügung.[3] (Abb. 1-3) Der Verlag ließ daraufhin Artikel aus der „Time” und der „News Review” ins Deutsche übersetzen, damit die Redakteure lernten, den in Deutschland noch wenig bekannten journalistischen Schreibstil der ausländischen Vorbilder zu adaptieren. Auch die graphische Gestaltung griff auf die visuellen Muster der englischsprachigen Meinungsblätter zurück. Die Erinnerungen des Mitbegründers und langjährigen Herausgebers, Rudolf Augstein beschränken sich hinsichtlich des Layouts auf die lakonische Aussage, dass die charakteristische „plakative” rote Leitfarbe des Umschlags rein deklaratorisch sei.[4] Tatsächlich rangierte sie in den ersten Jahren zwischen Rot und Orange.

Das Cover eines illustrierten Magazins ist seine Visitenkarte. So auch beim SPIEGEL, dessen Titel geradezu Kultstatus erlangten und zum festen Bestandteil der visuellen Alltagskultur in Deutschland wurden. Die farbigen Cover der neuen Medien wurden damals in den Ausstellungsfenstern der Kioske, in denen sie um die Aufmerksamkeit der Passant*innen und der Leser*innen buhlten, zu einer Art Bühne, auf der Fotografen und Graphiker brillierten. Eine Zäsur für die Wiedererkennbarkeit des SPIEGEL stellte 1955 das erste Heft mit der bis heute beibehaltenen rot-orange-farbenen Umschlagseite dar, die der langjährige Leiter der Grafikabteilung, Eberhard Wachsmuth, angelegt hatte. (Abb. 4) Seitdem ist der farbige Rahmen der Cover ein festes Element des Magazins. Das frühere Layout in den Jahren von 1947 bis 1954 teilte die Fläche noch in einen roten Kopf, der das obere Drittel der Seite einnahm, und in ein darunter stehendes Feld mit dem eigentlichen Titelbild.

Die Titelseite des SPIEGEL kündigt das Thema der Woche an und illustriert es mit einer Fotografie, einer Fotomontage oder einer Karikatur. Für jede der 52 Umschlagsseiten in einem Jahr entstehen im Schnitt zehnmal so viele Entwürfe, aus denen dann in der Redaktion ausgewählt wird.[5] Die Umschlagsgestaltung bezieht auch freischaffende Grafiker ein. Zu den bekanntesten gehörten zweifellos Künstler*innen, die wie Boris Artzybasheff, Jean Sole, Tilman Michalski, Ursula Arriens und der Pole Rafał Olbiński auch für das Wochenmagazin „Time” gearbeitet haben.[6] Aus den Untersuchungen von Dieter Just geht hervor, dass Titelseiten mit männlichen Konterfeis bis Mitte der 1960er Jahre überrepräsentiert waren. 1956 wurden 88 % der Umschlagseiten mit Abbildungen von Männern gestaltet, 4 % zeigten Frauen. Die übrigen Cover kamen mit unbelebten Szenen und Objekte aus.[7] Diese Proportionen blieben im Prinzip jahrelang gewahrt. Dafür veränderte sich die visuelle Gestaltung der Titel. Der Anteil von Fotomontagen bzw. von Karikaturen, die Szenen und Persönlichkeiten darstellten, nahm zu und die Nutzung von Porträts ließ nach. Bei alledem haben die Cover des SPIEGEL in der deutschen Presselandschaft rasch den Status einer Institution erlangt. 1972 wurden sie sogar auf der Documenta ausgestellt – einer der wichtigsten Kunstveranstaltungen der Welt, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet. Dies lag nicht nur an dem künstlerischen Wert der Cover, sondern vor allem an ihrer Relevanz als einer gesellschaftlichen Ikonographie des Alltagslebens, die der Kurator der Documenta 5, Harald Szeemann, ihnen attestierte. Er wählte 40 Titelseiten aus, die sich zu einem Zyklus herausragender politischer Ereignisse zusammenfügten, welche seines Erachtens Themen von größter Bedeutung aufwarfen, nicht nur für die deutsche Gesellschaft, sondern auch für die damalige Weltpolitik.[8]

 

[2] Die Wochenzeitschrift erschien anfangs in der britischen Besatzungszone unter dem Titel „Diese Woche” und wurde von der britischen Militärregierung beaufsichtigt (sechs Nummern von November bis Ende 1946).

[3] H. Hielscher, „Wollen Sie mitmachen?” Wie Diese Woche entstand und daraus Der Spiegel wurde, [in:] DER SPIEGEL, Sonderausgabe 1947-1997, 0/1997, Hamburg 1997, S. 10ff.

[4] J. Bölsche (Hrsg.), Rudolf Augstein. Schreiben, was ist. Kommentare, Gespräche, Vorträge, Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 2003, S. 67.

[5] Hausmitteilung, [in:] DER SPIEGEL, 53/1970, S. 5.

[6] S. Aust, (Hrsg.), Die Kunst des Spiegel. Titel-Illustrationen aus fünf Jahrzehnten, Kempen 2004.

[7] D. Just, Der Spiegel. Arbeitsweise – Inhalt – Wirkung, Verlag für Literatur und Zeitgeschehen 1967, S. 99.

[8]Vgl.: L. Burckhardt, B. Brock, H.H. Holz (u.v.a.), documenta5. Befragung der Realität – Bildwelten heute. Katalog, Band 1 und Band 2, Kassel 1972.

Interesse an polnischen Themen zeigte der SPIEGEL sehr früh, indem sie bereits in seinen ersten Ausgaben eine Rolle spielten, die noch mit vergleichsweise wenigen Seiten auskommen mussten. Schon in der ersten Nummer vom 4. Januar 1947 waren zwei Artikel polnischen Themen gewidmet, die hier wegen ihrer parolenhaften, immer noch der Kriegsrhetorik verhafteten Überschriften erwähnt werden. Der eine Text erschien unter dem Titel „Lebensraum – rot lackiert“, der andere hieß „Noch nicht verloren – polnische Wirtschaft hinter der Oder“. Der erste Betrag bezieht sich auf ein Wort von General Władysław Anders gegenüber der Züricher Zeitung „Die Tat” und stellt fest: „Polen sei [heute] nicht in der Lage, die deutschen Gebiete bis zur Oder [wirtschaftlich] zu verdauen.”[9] Der zweite Artikel, der dieselbe Tendenz vertritt, und zwar sowohl phraseologisch als auch inhaltlich, hebt hervor, dass Polen aufgrund der Abwanderung der Deutschen aus den ehemaligen Reichsgebieten und wegen seines Arbeitskräftemangels nicht in der Lage sein werde, diese Verwerfungen zu bewältigen. Kaum zwölf Monate später begann der SPIEGEL, als erstes Presseorgan in der britischen Besatzungszone mit dem Abdruck der Tagebücher des damals bereits abgetretenen Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung Stanisław Mikołajczyk.[10]

Auch in den von enormen politischen Krisen geplagten 1980er Jahren kommen polnische Themen in größerem Umfang im SPIEGEL vor und werden ähnlich wie in den turbulenten 40er Jahren von Persönlichkeiten vertreten, die dem politischen System der Nachkriegszeit im Land jenseits der Oder kritisch gegenüberstehen. Gleich nach dem Krieg war es Stanisław Mikołajczyk und nun, fast ein halbes Jahrhundert später, sind es Oppositionelle, die sich offen gegen die kommunistische Regierung wenden, unter anderem Lech Wałęsa, Jacek Kuroń oder Adam Michnik. An dieser Stelle ist anzumerken, dass ein konstitutives Merkmal des Magazins, aber auch der übrigen meinungsbildenden Presse, in einem mehrstimmigen Diskurs besteht, der Themen aus mindestens zwei Perspektiven betrachtet. Dem entsprechend wurde im SPIEGEL über die Ereignisse in Polen aus Sicht der breit verstandenen Opposition und aus der Sicht der Machthaber berichtet, wie die Präsenz der genannten Personen, aber auch von Mieczysław F. Rakowski und anderer wichtiger Vertreter der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza) in der Zeitschrift zeigt.

Die Texte über Polen aus den 1980er Jahren enthalten ein typisches geschichtsphilosophisches Narrativ, das für die komplizierte Geschichte des Landes die Formulierung „polnisches Drama” wählt. „Polen, das zuerst von Adolf Hitler erobert und später von seinen Verbündeten im Stich gelassen wurde, mag dem Leser wie ein fernes Land erscheinen. (…) und seine Tragödie mag vielleicht von einigen als Normalzustand der Europäer und besonders der Polen hingestellt werden. Was aber in Polen heute geschieht, das geht auch Sie [die deutschen Leser – Anm. d. Autors] an.”[11] – schreibt Stanisław Mikołajczyk in seinen Tagebüchern. Diese Aussage wird von der Redaktion des Magazins in der zweiten Jahresausgabe im Januar 1982 erneut zitiert, und zwar im Zusammenhang mit dem Zitat des amerikanischen Schriftstellers Wiliam Faulkner: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.”[12] Anfang der 80er Jahre kehrt, wie der SPIEGEL schreibt, das „polnische Drama” zurück und überschattet die Vergangenheit, die durch die Ordnungskonferenz von Jalta entstand.[13]

 

[9] Lebensraum – rot lackiert, [in:] DER SPIEGEL, 1/1947, S. 6. 
[10] S. Mikołajczyk, Die Memoiren Mikolajczyks, [in:] DER SPIEGEL, 3/1948, S. 13.  
[11] Ebenda, S. 13.  
[12] Hausmitteilung, [in:] DER SPIEGEL, 2/1982, S. 3. 
[13] Ebenda, S. 3. 

In den letzten Wochen der 1980er Jahre erscheint eine Serie aus fünf umfangreichen Beiträgen, die einen detaillierten Einstieg in die polnische Thematik bietet. Die Artikel stellen gewissermaßen einen geschichtsphilosophischen Filter dar, durch den die Redaktion die damalige Situation in Polen sah. Aus heutiger Sicht scheint die Artikelfolge, die unter dem Generaltitel „Wie Polen verraten wurde“[14] in fünf aufeinander folgenden Ausgaben publiziert wurde, fast eine prophetische Vorwegnahme der Brisanz der Veränderungsprozesse zu sein, die von den Ereignissen im August 1980 in Danzig (Gdańsk) ausgingen. Geboten wurde eine umfangreiche Analyse des polnischen Staatswesens in der jüngeren Geschichte des Landes, und zwar von der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 über den Hitler-Überfall 1939 bis hin zu der Neuordnung, die sich im Zuge der Konferenzen der „Großen Drei“ [Siegermächte - Anm. der Übers.] herausgebildet hatte. Abgesehen von dieser Rekonstruktion der Geschichte des polnischen Staats nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bieten die Artikel außerdem einen ebenso treffenden geopolitischen Abriss, in dem sich das tragische Schicksal des polnischen Staats in Folge der gegensätzlichen Interessen der Supermächte ergibt. Die Metaebene des historischen Prozesses und der geopolitischen Bedingungen, die dem Leser in dieser Artikelserie nahegebracht wurden, setzte den interpretatorischen Rahmen für die aktuelle, fast wöchentliche Berichterstattung aus Polen. Die Ursachen und Folgen der damaligen Geschehnisse ließen sich nicht mehr nur auf interne Krisen in der Gesellschaft, im Parteiapparat oder in der politischen Opposition reduzieren, sondern sie gingen in einem größeren Überbau politischer Interdependenzen der Supermächte auf. Das Interesse der Redaktion an polnischen Themen resultierte aber auch aus den Strukturen des Magazins. Der SPIEGEL hatte keine feste Kolumne, die sich mit Polen befasste. Die Häufigkeit der Berichterstattung orientierte sich daher an der Relevanz der gesellschaftspolitischen Ereignisse. Dabei war die Aufnahme polnischer Themen naturgemäß auch dem Wettlauf um gute News geschuldet, so dass es in Zeiten von Spannungen und Unruhen viel über Polen zu lesen gab und entsprechend weniger, wenn sich nichts Außergewöhnliches tat. Dieser Trend trifft sowohl auf die redaktionelle Berücksichtigung als auch auf die Titelseiten zu.

Vor diesem Hintergrund sucht man in den 20 Jahren seit der Gründung des Magazins vergeblich Artikel und Titelseiten, die sich unmittelbar und nur auf polnische Themen beziehen. Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen lebt vor allem das Cover fort, das den symbolträchtigen Kniefall des Kanzlers der Bundesrepublik zeigt. Die schwarz-weiße Fotografie von Willy Brandts großer Geste 1970 in Warschau (Warszawa) zählt zu den am meisten gedruckten Pressefotos überhaupt und ist bis heute eines der bekanntesten Bilder des deutschen Kanzlers. (Abb. 5) Auch die Wahl eines Polen zum Papst wurde vom SPIEGEL mit einer Titelseite gewürdigt. Mit dem Porträt von Karol Wojtyła auf dem Cover der Ausgabe 43/1978 wird der Kardinal den deutschen Leser*innen direkt nach seiner Wahl zum Oberhaupt der katholischen Kirche vorgestellt. Dabei lässt die damals gewählte Überschrift: „Der Papst aus Polen – die Kommunisten herausgefordert“ keine Zweifel daran, dass der Ausgang des Konklaves von der Redaktion des Magazins auch in seiner politische Bedeutung für Polen und den ganzen Ostblock wahrgenommen wurde. (Abb. 6) Dem polnischen Papst wurden mehrere Titelseiten gewidmet. Eine weitere Gelegenheit ergab sich anlässlich der Pilgerreise, die Papst Johannes Paul II. vom 2. bis zum 10. Juni 1979 nach Polen unternahm. Dies war das erste Mal in der Geschichte des Heiligen Stuhls, dass sein Hüter in ein kommunistisches Land fuhr. Das Cover der Ausgabe 23/1979 vom 4. Juni drückt sowohl die symbolisch-religiöse als auch die politische Dimension aus, die dem Hamburger Magazin natürlich nicht entging. (Abb. 7)

Anfang der 1980er Jahre nahm das Interesse an polnischen Themen zu. Zwischen 1980 und 1990 widmete das Magazin fast 13 Titelseiten der gesellschaftlich-politischen Situation in Polen bzw. polnischen Persönlichkeiten. Allein 1980 nahm der SPIEGEL rund fünf Mal auf seinen Covern Bezug auf polnische Themen. Die Ereignisse an der polnischen Küste im August 1980 führten dazu, dass die westliche Presse und die westlichen Medien ihr Augenmerk auf die streikenden Arbeiter in den Staatsbetrieben im Norden des Landes richteten, insbesondere auf die Lenin-Werft in Danzig (Stocznia im. Lenina w Gdańsku). Das Titelthema der Ausgabe 34/1980 war eine schnelle Reaktion des Magazins auf die Streiks der Danziger Werftarbeiter und auf die gesellschaftliche Krise in Polen, die sich von Tag zu Tag verschärfte. Das Titelbild verarbeitet einen Ausschnitt aus einem Foto der Werftarbeiter bei einer Kundgebung. Über das Bild wurde die fett gedruckte Ankündigung des Titelthemas der Ausgabe gelegt: „Gierek in Not - Polens Arbeiter rebellieren“, wobei „Gierek in Not“ außerdem noch durch eine rote Unterstreichung hervorgehoben wurde. (Abb. 8)

 

[14] Wie Polen verraten wurde, fünfteilige Artikel-Serie, [in:] DER SPIEGEL, 48-52/1980. 

Eine Woche später, am 25. August 1980, erschien die nächste Ausgabe, deren Titelseite ebenfalls einem Ereignis in Polen gewidmet war. Das Cover der Ausgabe 35/1980 entstand unter Verwendung eines retuschierten Fotos, das vor dem Tor der Werft in Danzig gemacht worden war und Arbeiter darstellte, die vor dem am Eingangstor aufgehängten Bildnis Johannes Paul II. beten. (Abb. 9) Die Retusche des schwarz-weißen Fotos bestand darin, dass es blutrot eingefärbt war, so dass es in einer farblich einheitlichen Komposition mit der gesamten Umschlagsseite verschmolz, auf der das Titelthema mit „Der Aufruhr in Polen – Gefahr für Osteuropa“ in fetten weißen Buchstaben angekündigt wurde. Der erste Teil des Titels, „Der Aufruhr in Polen“, wurde zusätzlich weiß unterstrichen. Dabei führte die rote Farbgebung des Covers unmissverständlich vor Augen, von welcher Gefahr ausgegangen wurde: Rot ist das Symbol für Blut, das auf die betenden Arbeiter herabfließen könnte. Auch die nächste Ausgabennummer 36/1980 war der Krise in Polen gewidmet und auch auf ihrer Titelseite greift die Zeitschrift das polnische Thema auf, obwohl der visuelle Bezug auf die Lage im Land nicht so eindeutig wie bei den beiden zuvor gedruckten Covern ist. (Abb. 10) Zu sehen ist eine stilisierte bröckelnde Faust aus Stein. Die als Suggestivfrage formulierte Bildunterschrift lautete damals „Kommunismus reparabel?“[15] Dieses Cover hatte Ursula Arriens kreiert, eine sehr erfolgreiche Künstlerin, die von 1978 bis 1988 exklusiv für den SPIEGEL Titelseiten entwarf. Mit diesem Motiv spricht seine Schöpferin prägnant die fortschreitende Erosion der kommunistischen Ideologie an, die durch die Entstehung der Gewerkschaftsbewegung Solidarność (Solidarität) als neue Kraft wesentlich beschleunigt wurde. Die nächste Titelseite über Polen findet sich auf der Ausgabe 45/1980 vom 3. November. (Abb. 11) Sie ziert ein farbiges Porträt von Lech Wałęsa, das seitlich mit der erläuternden Beschriftung „Arbeiterführer Walesa“ versehen ist. Darunter ist in deutlich größerer Schrift die Ankündigung des Titelthemas „Entscheidung in Polen“ zu lesen. Diese Ausgabe erschien am Vortag der Legalisierung der Gewerkschaftsbewegung. Kurz darauf, am 10. November 1980, stimmt die Regierung der Registrierung des Niezależny Samorządny Związek Zawodowy „Solidarność” (Unabhängiger Selbstverwalteter Gewerkschaftsbund „Solidarität“) zu. Damit beginnt die legale Tätigkeit der neuen Organisation. Die Titelseite der darauffolgenden Ausgabe des Magazins stellt keinen direkten Zusammenhang zu den politischen Unruhen in Polen her, zeigt jedoch fast als Karikatur den polnischen Papst Johannes Paul II., der sinnbildlich über dem Kopf von Martin Luther schwebt. Die Zeichnung wurde von dem deutschen Grafiker und Maler Michael M. Prechtl geschaffen. Damit greift die Titelseite das Thema der Apostolischen Reise des Papstes nach Deutschland auf. (Abb. 12) Ende 1980 erschien als letzte von fünf Titelseiten innerhalb eines Jahres noch eine weitere Ausgabe des SPIEGEL, deren Cover Polen gewidmet war. Die Zeit, in der die Solidarność legal agierte, die bisweilen auch als „Karneval der Solidarität“ bezeichnet wird, weckte in der polnischen Gesellschaft Hoffnungen darauf, zumindest das Monopol der Staatspartei zu brechen, die alleinige Vertretung der Gesellschaft zu sein. Aus bundesrepublikanischer Sicht gab es eine lebhafte Furcht, die gesellschaftlichen und politischen Unruhen könnten so sehr eskalieren, dass es zu einer bewaffneten Intervention der UdSSR in Polen kommen könnte. In diesem Sinne ist die Titelseite der Ausgabe 50/1980 zu verstehen, die am 8. Dezember an die Kioske kam. (Abb. 13) Die schwarz-rote Farbgebung mit einem russischen Panzer, der einen weißen Adler, das Beherrschende Element des polnischen Staatswappens, überrollt, baut eine bedrohliche Spannung auf und muss den Leser in Sorge versetzen. Das Titelthema wird dem entsprechend als Warnung formuliert. Es heißt „Aufmarsch gegen Polen“.

 

[15] Das Symbol der erhobenen Faust entspringt dem Poem „Wladimir Iljitsch Lenin“ von Wladimir Majakowski: „(…) Partei - ist die Hand der Millionen Finger, zerschmetternd zur eigenen Faust geballt. (...)“, nachgedichtet von Hugo Huppert, siehe unter: http://ciml.250x.com/archive/literature/german/majakowski/majakowski_1924_gedicht_lenin.pdf, (letzter Abruf: 03.08.2020). Das Symbol der Faust wird auch von linksextremen Bewegungen, z. Bsp. des Autonomismus, genutzt; vergleiche mit: https://pl.wikipedia.org/wiki/Autonomizm.

Einige Wochen vor der Ausrufung des Ausnahmezustands in Polen, umgangssprachlich auch „Kriegsrecht“ genannt, kehrt die polnische Thematik auf das Cover des Magazins zurück. Die Oktober-Ausgabe 41/1981 erscheint mit einer Titelseite, die damals viel Beachtung fand, da sie die durchaus kuriose Szene zeigt, dass sich ein hockender Lech Wałęsa als Gewichtheber gibt. (Abb. 14) Auf der ohnehin schweren Last, die der Anführer der polnischen Arbeiterbewegung zu heben hat, sitzt zusätzlich ein riesiger roter Bär. Die vom Zeichner eingefangene Symbolik lässt eindeutig an das „russische Raubtier” denken, mit dem der Kraftsportler ringt. Das Gewicht, die Größe des Raubtiers und sein böser Blick erzeugen eine Atmosphäre der Bedrohung durch die Aggression, mutmaßlich der UdSSR. Dabei scheint die gewaltige Verantwortung, die auf seine Schultern ruht, Wałęsa jedoch nichts anzuhaben. Diese sehr populäre Titelseite wurde von dem französischen Graphiker und Comiczeichner Jean Sole geschaffen. Mit der Ausgabe 52/1981 wurde auch die vorletzte Ausgabe des Magazins des Jahres 1981 der polnischen Thematik gewidmet, deren Titelseite sich unmittelbar auf den am 13. Dezember ausgerufenen Ausnahmezustand bezog. (Abb. 15) Die Fotomontage zeigt General Wojciech Jaruzelski, der nach der Einführung des Kriegsrechts an der Spitze des Staates stand. Im Hintergrund sind Soldaten der Polnischen Volksarmee (Ludowe Wojsko Polskie) zu sehen. Das Titelthema dieser Ausgabe heißt „Partei am Ende – Militär soll Polen retten“. In diesem Zusammenhang ist das Cover der Ausgabe 2/1982 im Januar des Jahres als Fortsetzung der Thematik zu verstehen. (Abb. 16) Es greift die bereits erwähnten historischen und geopolitischen Entwicklungen in Polen nach 1945 auf. Das Titelthema dieser Ausgabe erklärte den westdeutschen Leser*innen die Bedeutung Polens für die UdSSR und das System der Ostblockstaaten. Das Foto in einer Kartenansicht, die im Hintergrund angelegt ist, stellt die Protagonisten der Konferenz der „Großen Drei” dar: Winston Churchill, Franklin Delano Roosvelt und Józef Stalin. Auf dem Titel ist die Schlagzeile „Jalta 1945 – Wie Polen verkauft wurde“ zu lesen. Die für Polen entscheidenden Monate zwischen August 1980 und dem 13. Dezember 1981, als der Widerstand der Opposition durch die Verhängung des Kriegsrechts unterdrückt wurde, fanden in der fast wöchentlichen Berichterstattung des Magazins zur aktuellen Lage ihren Niederschlag, ebenso auf den Titelseiten des Wochenmagazins, die Polen und seinen populären Repräsentanten gewidmet waren. Die letzte Titelseite in dieser turbulenten Zeit bezog sich auf die Situation der Oppositionellen, die von der Militärdiktatur interniert worden waren. (Abb. 17) Für das Cover der Ausgabe 10/1982 vom 8. März wurde eine Fotomontage gewählt, auf der Adam Michnik, einer der wichtigsten Oppositionellen des Landes, hinter einem vergitterten Zellenfenster zu sehen ist. Die Titelseite trägt die Ankündigung „Kassiber an den Spiegel: ‚Wir sind alle Geiseln‘ – Polen-Häftling Michnik über die Militärdiktatur“.

In den nächsten drei Jahren spielte die polnische Thematik bei den Titelseiten des Magazins keine Rolle. Auch wenn Papst Johannes Paul II. auf dem Cover der Ausgabe 51/1983 zu sehen ist, geschieht dies ohne bewussten Bezug auf die gesellschaftliche und politische Situation in Polen. (Abb. 18) Als Hauptthema der Ausgabe legte sich die Redaktion auf die Bedeutung der Marienverehrung in der katholischen Kirche fest. Auf dem Titel der Ausgabe ist Maria, die Mutter Gottes, zu sehen, zu der Johannes Paul II. betet. Ihre Darstellung verdankte sich dem deutschen Maler Mathias Waske. Die durch die Militärdiktatur erzwungene relative Stabilisierung der Lage in Polen beruhte auch auf der Kontrolle von Informationen, die nur bedingt unzensiert an westliche Medien durchsickerten. Seit der offiziellen Aufhebung des Kriegsrechts am 23. Juli 1983 hatten die polnischen Behörden die Gewissheit, dass es keine rasche Rückkehr zu dem alten Dualismus geben würde, in dem die Partei offiziell die Interessen der Gesellschaft vertritt, während diese eigene basisdemokratische Formen der Interessenvertretung betreibt. Von 1983 bis 1987 bzw. bis 1988 gingen die Mitteilungen über Polen, die das Hamburger Wochenmagazin verbreitete und auch die „polnischen“ Titelseiten fast auf null zurück. In dieser Zeit gab es nun noch ein einziges Cover, das ein polnisches Thema problematisierte, indem es den Mord an dem Solidarność-Priester Jerzy Popiełuszko von 1984 auf das Cover nahm. (Abb. 19) Die Ausgabe 5/1985 vom 28. Januar druckte einen Ausschnitt eines Fotos von Popiełuszko mit der Schlagzeile „Wie der Geheimdienst mordete – Prozess in Polen“ auf dem Titel, wobei das Wort „Prozess“ in Schrift und Farbe eindeutig der Wortmarke der Solidarność entsprach. Das Titelthema befasste sich mit dem Prozess gegen die Popiełuszko-Mörder sowie mit den Auswirkungen des politischen Mordes auf die inneren Angelegenheiten der Volksrepublik Polen.

Der sogenannte „Runde Tisch“ der politischen Opposition und der kommunistischen Regierung, der am 6. Februar 1989 offiziell eröffnet wurde, letztlich zu einem Durchbruch führte und die sukzessive Änderung des politischen Systems hervorrief, fand kein Interesse der Bildredaktion des SPIEGEL. Die westliche Öffentlichkeit und die westlichen Medien waren von der Gründung und der Entwicklung der Solidarność offenbar genauso überrascht, wie sie den Prozess des Niedergangs des kommunistischen Systems in den mittel- und osteuropäischen Staaten weitgehend vorausgesehen und wohl auch erwartet haben. Seit 1987 macht sich dann das Interesse an den Veränderungen, die nicht nur in Polen, sondern im ganzen Ostblock stattfinden, in den Prioritäten des Hamburger Magazins wieder mehr bemerkbar. Die demokratische Transformation in Mittel- und Osteuropa schritt vielerorts voran und strahlte breit aus. In diesem Kontext ist die letzte Titelseite, die sich der polnischen Thematik nur allgemein zuordnen lässt, als signifikant anzusehen. Papst Johannes Paul II. stand erneut im Mittelpunkt der Darstellung, die von dem bekannten französischen Schriftsteller und Illustrator Jean-Thomas „Tomi“ Ungerer geschaffen wurde. (Abb. 20) Sein Titelbild stellt eine Karikatur des damaligen Kirchenoberhaupts dar. Der Papst hält ein rosa Kondom in der Hand, dessen oberer Teil als Fratzenkopf stilisiert ist. Das Titelthema, in dem es in Hinblick auf die menschliche Sexualität kritisch um die herrschende Lehre der Kirche und des Papstes Johannes Paul II. geht, heißt „Der Papst und die Lust“. Alles in allem scheint es so gewesen zu sein, dass die politische und die gesellschaftliche Situation in Polen zu Beginn der 90er Jahre nicht so besorgniserregend war, dass sie auf das Cover der Zeitschrift hätte kommen können. 1989 und 1990 standen die sich immer mehr abzeichnende Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands, der Zerfall des Ostblocks sowie in dessen Folge auch das Auseinanderbrechen der UdSSR im Fokus der Bildredaktion des SPIEGEL.

 

Aleksander Gowin, Juli 2018

 

Quellen:

Stefan Aust (Hrsg.), Die Kunst Des Spiegel. Titel-Illustrationen aus fünf Jahrzenten, teNeues Publishing Group 2004.

Jochen Bölsche, Rudolf Augstein. Schreiben, was ist. Kommentare, Gespräche, Vorträge, Deutsche Verlags-Anstalt 2003.

Hans Dieter Jaene, Der Spiegel. Ein deutsches Nachrichten-Magazin, Fischer Bücherei 1968.

Dieter Just, Der Spiegel. Arbeitsweise – Inhalt – Wirkung, Verlag für Literatur und Zeitgeschehen 1967.

Peter Merseburger, Rudolf Augstein. Der Mann, der den Spiegel machte, Pantheon Verlag 2009.

Hans-Dieter Schütt, Oliver Schwarzkopf, Die Spiegel-Titelbilder 1947-1999, Schwarzkopf &Schwarzkopf Verlag 2000.

„Der Spiegel”, Sonderausgabe 1947-1997, Ausgabe 0/1997.