Veränderungen auf dem Ozean. Über die Kunst von Agata Madejska.
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„Die entstehenden Perturbationen kürzen und längen abwechselnd die Bahn des Planeten, und sollten Urkeime von Leben entstehen, so unterliegen sie der Zerstörung durch glutheiße Strahlung oder auch durch eisige Kälte. Diese Änderungen vollziehen sich im Zeitraum von Jahrmillionen, also der astronomischen oder biologischen Größenordnung nach (da die Evolution hunderte Millionen, wenn nicht eine Milliarde von Jahren erfordert) – in sehr kurzer Zeit.”[1]
In einer in Fragmente zerfallenen Welt, in der einzelne Lebensgeschichten nur in der Gegenwart beginnen und sich ereignen, wird es immer schwieriger, sich zu erinnern und Elemente der Ganzheit aufzufinden. Genau genommen ist dies ein Widerspruch in sich und unerträglich unfruchtbar. Jeder Versuch, über die Betrachtungsweise einer einzigen Lebensspanne hinauszublicken, wird von der Last der Zweifel und den verworrenen Handlungssträngen, von möglichen Neudeutungen und von Entlehnungen niedergedrückt. Simulakren füllen Alben und Erinnerungen, Worte bleiben als mehrstufige Metaphern, die Faktenlage wird auf ihre Medienwirksamkeit und kurze Halbwertzeiten reduziert.
In einer Welt, in der die Gravitation immer noch gilt, können sich selbst Beton, Stein und Stahl ihrer Lebensdauer nicht mehr sicher sein. Bauten verfallen und werden aus den Landschaften retuschiert. An ihrer Stelle entstehen unmittelbar neue Objekte; Denkmäler werden gestürzt, versetzt und mitunter verhüllt oder nachgearbeitet. Bei all der Elastizität und Dehnbarkeit der neuen Wirklichkeit beeinflusst sie die unlängst noch soliden, von Menschenhand geschaffenen Objekte ganz entschieden und aggressiv.
Der Raum, der einem so dynamischen Wandel unterliegt, hat selbst dort, wo er ursprünglich grün war, schon lange seine Natürlichkeit eingebüßt. Längst gehört er dem Menschen. Das ganze Arsenal technischer Instrumente, das diese Transformation unterstützt, bestätigt nur dieses Dominium [Herrschaftsbesitz, Anm. d. Übers.] wie eine Art ewige Folter.
Diese Verfügung über die Dinge ist in ihrem Ausmaß insofern bemerkenswert, weil man aus diesem Zustand nicht aussteigen kann. Er weist einen totalitären Charakter auf, obwohl auf Grund der aufklärerischen Ideale: der Kontrolle, der Erkenntnis und der Vervollkommnung, so scheint es, nicht viel oder nur so viel übriggeblieben sei, wie von der um sich greifenden Entropie zugelassen wird. Dadurch wird selbst die panoptische Vision auf einem Auge blind.
Bei alle dem verlangt dieser Hyperraum nach genauer Bezeichnung, wenngleich man wohl sagen kann, dass er die menschliche Wirklichkeit ist. Dennoch fehlt in dieser Definition die Einbeziehung der Dynamik, die die heutige Disparität und die Ängste so sehr prägt, und welche die wachsende Entropie als solche die ihre eigene Quelle hat, betrachten läßt. Es ginge also um eine Kraft, die jeden und alles berührt. Diese Kraft könnte die Politik sein – im weitesten Sinne begriffen als ein Katalog von Maßnahmen, die das Leben der Menschen organisieren, es in einem Netz sich überschneidender Interessen verstricken und die zulassen, die individuelle Existenz des Menschen zugunsten der Masse und der Verallgemeinerung zu abstrahieren. Hinter dieser Kraft, die alles Menschliche absorbiert, vor dem Hintergrund und ihrem Ausmaß, steckt der Urmechanismus des menschlichen Handelns: die Notwendigkeit durch Gruppenbildung zu überleben, um die Chancen der Arterhaltung zu steigern.
Es ist aber kein homogener Raum, keiner, der vollständig verplant und mustergültig entwickelt wäre. An vielen Stellen scheint er zu bersten, neu zu entstehen, an seinen Krümmungen zu implodieren. Für Agata Madejska stellt dieser so vitale Ozean ein Objekt ständiger künstlerischer Auseinandersetzung dar. Die schon angedeuteten Risse, Spalten und Schwankungen interessieren sie am meisten und werden von ihr mit allen Ängsten, die an der Gegenwart zerren, zusammengestellt. Bestes Beispiel dieser Praxis ist ein Werkzyklus ohne Titel, der aus einer Reihe abstrakter, großformatiger Fotografien besteht, die fast organische, zellenartige schwarz-weiße Strukturen zeigen. Eben dieser erste Eindruck spricht für das Magma, für die Orientierungsprobleme im Hier und Jetzt. Erst bei näherer Betrachtung, wenn sich der Blick beruhigt hat, tauchen aus dem Magma Formen Anordnungen und Details auf. Die schwarz-weißen Punkte gewinnen an Wert, indem kleine Muscheln und Fossilien, also in Steinen eingeschlossene prähistorische Organismen, sichtbar werden und es dauert einige Zeit, bis die Titel der Arbeiten wie „DeBeers“ (2017), „London Stock Exchange“ (2017) und „The Economist“ (2015), den weiteren Teil der Geschichte erzählen. Diese minimalistischen Arbeiten sind Collagen von Kalksteinfotografien, aus denen die Gebäude der einst größten Handelsfirma für Diamanten der Welt sowie der Londoner Börse bestehen. Jeder Abzug entsteht als einmalige Aufzeichnung – eine Montage verschiedener Aufnahmen und bildet dadurch die in den Steinen enthaltene und im Laufe der Zeit zersetzte Modalität ab.
Madejska wählt ganz bewusst Objekte aus, die Schnittpunkte im politischen Raum, quasi dialektische Bereiche der Macht, darstellten, kartierte sie jedoch unterhalb des Horizonts des aktuellen öffentlichen Diskurses.[2] Mit diesem archäologischen, die Fundamente freilegenden Konzept fragt sie nach der Dauerhaftigkeit der Objekte. Die sichtbaren Versteinerungen, die unter dem Druck der Zeit Verwandlungen unterlagen, lieferten unter anderem die Materialien für die Bauwerke menschlicher Macht. So dargelegt wird Madejskas Einstellung zum untersuchten Raum und seiner Ordnung deutlich, die ihr gesamtes Werk betrifft. Sie nimmt den Dingen ihr Pathos und ihre grandiose, postaufklärerische Herausforderung einer unbekannten Zukunft. Madejska nimmt an, dass der Raum, den sie von innen betrachtet, ebenfalls Metamorphosen und der Zerlegung in kleinste Partikeln unterliegt. Auch deshalb ist die Selbstsicherheit, von der die Architektur der Macht begleitet wird, Erosionen ausgesetzt. Sogar die Institutionen haben zu bedenken, dass sie von ihren toten Ahnen gestiftet worden sind.
[1] Stanisław Lem, Solaris, aus dem Polnischen übersetzt von Irmtraud Zimmermann-Göllheim, Suhrkamp Taschenbuch, Hamburg, 1978, S. 22.
[2] Ähnlich verfährt die Künstlerin in dem Zyklus „Ideogram“ (2007-2009), der verschiedenen Bauwerken der scheinbaren Macht gewidmet ist – gläsernen, generischen Hochhäusern, in denen anonyme Marktprozesse vor sich gehen.