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Sławomir Elsner – Präzision und Unschärfe

Sławomir Elsner in der Schausammlung des Museums Wiesbaden, 2021 (im Hintergrund Alexej von Jawlensky: Spanierin, 1913)

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  • Abb. 1: Aus der Serie „Slawomir“, 1999 - Fotografie, 12,5 x 19 cm
  • Abb.2: From the series entitled “Slawomir”, 1999 - Photograph, 12.5 x 19 cm
  • Abb. 3: Aus der Serie „Slawomir“, 1999 - Fotografie, 12,5 x 19 cm
  • Abb. 4: Aus der Serie „Slawomir“, 1999 - Fotografie, 12,5 x 19 cm
  • Abb. 5: Aus der Serie „Slawomir“, 1999 - Fotografie, 12,5 x 19 cm
  • Abb. 6: Aus der Serie „Slawomir“, 1999 - Fotografie, 12,5 x 19 cm
  • Abb. 7: Aus der Serie „Slawomir“, 1999 - 1999, Fotografie, 12,5 x 19 cm
  • Abb. 8: Aus der Serie „Slawomir“, 1999 - Fotografie, 12,5 x 19 cm
  • Abb. 9: Slawomir, 1999 - 20 Fotografien, je 12,5 x 19 cm, Courtesy of the Artist und Galerie Gebr. Lehmann
  • Abb. 10: 1. November, 1999 - Aquarell, 58 x 86 cm, Sammlung Jörg Johnen, Berlin
  • Abb. 11: Ausstellungsansicht - Von links: Feuerwerk und Luftabwehr #1, 2004; 270 Kilotons, 2007; A4 Blatt 131, 2015; A4 Blatt 42, 2010; Landschaft, 2003; Warszawa, 2009, Museum Wiesbaden, 2021
  • Abb. 12: Windows on the World 5, 2008 - Farbstiftzeichnung, 168 x 110 cm, Privatsammlung Berlin
  • Abb. 13: Windows on the World 9, 2010 - Farbstiftzeichnung, 168 x 110 cm, Privatsammlung Schweiz
  • Abb. 14: Ausstellungsansicht - Von links: Windows on the World 9, 2010; Windows on the World 4, 2008; Windows on the World 5, 2008; Museum Wiesbaden, 2021
  • Abb. 15: Ausstellungsansicht - Von links: Windows on the World 11, 2010; Just Watercolors (001), 2020; Museum Wiesbaden, 2021
  • Abb. 16: Ausstellungsansicht - Von links: Just Watercolors (081), 2021; Just Watercolors (072), 2020; Just Watercolors (077), 2020; Just Watercolors (080), 2020
  • Abb. 17: Just Watercolors (004), 2015 - Just Watercolors (004), 2015. Aquarell auf Papier, 168 x 110 cm, Courtesy of the artist
  • Abb. 18: Just Watercolors (070), 2020 - Aquarell auf Papier, 146 x 116 cm, Privatsammlung Schweiz
  • Abb. 19: Just Watercolors (078), 2020 - Aquarell auf Papier, 140 x 110 cm, Courtesy of the artist und Galerie Lullin + Ferrari, Zürich
  • Abb. 20: Ausstellungsansicht - Von links: Just Watercolors (050), 2018; Waldinneres bei Mondschein, 2019; Der Schmetterlingsfänger, 2021; Just Watercolors (078), 2020; Just Watercolors (073), 2020
  • Abb. 21: Just Watercolors (050), 2018 - Aquarell auf Papier, 164 x 164 cm, Courtesy of the artist
  • Abb. 22: Just Watercolors (063), 2019 - Aquarell auf Papier, 84,4 x 60 cm, Courtesy of the artist und Galerie Gebr. Lehmann, Dresden
  • Abb. 23: Ausstellungsansicht - Von links: Just Watercolors (050), 2018; Just Watercolors (063), 2019
  • Abb. 24: Ausstellungsansicht - Von links: Just Watercolors (050), 2018; Just Watercolors (063), 2019; Portrait einer bekannten Dame, 2020; Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff, 2019; Spanierin (Frau vor grauem Hintergrund), 2021
  • Abb. 25: Ausstellungsansicht - Von links: Portrait einer bekannten Dame, 2020; Bildnis des Tänzers Alexander Sacharoff, 2019; Spanierin (Frau vor grauem Hintergrund), 2021
  • Abb. 26: Selbstbildnis, 2021 (nach Jawlensky) - Farbstifte auf Papier, 53,5 x 48,5 cm (nach Alexej von Jawlensky, 1912, Museum Wiesbaden), Courtesy of the artist und Galerie Gebr. Lehmann, Dresden
  • Abb. 27: Liebespaar, 2021 (nach Mueller) - Aquarell auf Papier, 110 x 85 cm (nach Otto Mueller, 1917/1919, Museum Wiesbaden), Courtesy of the artist und Galerie Gebr. Lehmann, Dresden
  • Abb. 28: Ausstellungsansicht - Von links: Der Turm der blauen Pferde, 2016 (nach Marc); Liebespaar, 2021 (nach Mueller)
  • Abb. 29: Ausstellungsansicht - Von links: Waldinneres bei Mondschein, 2019 (nach Friedrich); Der Schmetterlingsfänger, 2021 (nach Spitzweg)
  • Abb. 30: Das Mädchen mit dem Perlenohrring, 2018 (nach Vermeer) - Farbstifte auf Papier, 44,5 x 39 cm (nach Jan Vermeer van Delft, um 1665, Mauritshuis, Den Haag), Sammlung Dr. Claar
  • Abb. 31: Das Mädchen mit den Perlenohrringen, 2018 (in Anlehnung an Vermeer) - Farbstifte auf Papier, 44,5 x 39 cm (in Anlehnung an Jan Vermeer van Delft, um 1665, Mauritshuis, Den Haag), Courtesy of the artist
  • Abb. 32: Allegorie der Liebe, 2020 (nach Bronzino) - Farbstifte auf Papier, 146 x 116 cm (nach Agnolo Bronzino, um 154/45, National Gallery, London), Privatsammlung München, Courtesy Lullin + Ferrari, Zürich
  • Abb. 33: Bildnis des Farbenhändlers, 2019 (nach Titian) - Farbstifte auf Papier, 138 x 116 cm (nach Tizian, um 1561/62, Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden), Kunstmuseum Bonn
  • Abb. 34: Farbstift-Enden #2, um 1989 - Farbstift-Enden auf einem Sockel, Courtesy of the artist
  • Abb. 35: Blick ins Atelier - Ausstellungsinstallation, Museum Wiesbaden, 2021
  • Abb. 36: Außenwerbung - Außenwerbung, Museum Wiesbaden 2021
Sławomir Elsner in der Schausammlung des Museums Wiesbaden, 2021 (im Hintergrund Alexej von Jawlensky: Spanierin, 1913)
Sławomir Elsner in der Schausammlung des Museums Wiesbaden, 2021 (im Hintergrund Alexej von Jawlensky: Spanierin, 1913)

Sławomir Elsner besitzt die Fähigkeit, hinter bekannte Bildwelten, Bildmuster und Bildgewohnheiten zu blicken. Im Museum Wiesbaden, wo seine neueste Ausstellung stattfindet, trifft man ihn auch als Besucher in den historischen Schausammlungen des traditionsreichen Museums, dessen Gründung bis in die Goethezeit zurückreicht und das Kunst von der Gotik über den Jugendstil und den Expressionismus bis in die Gegenwart zeigt. Für Elsner sind die Bild- und Gestaltungsmuster der älteren Kunstgeschichte und der Moderne ein offenes Buch, ebenso populäre Bildwelten wie Fotografie und Pressebilder, deren Motive er seit zwei Jahrzehnten in unterschiedlicher Weise in seinen Kunstwerken hinterfragt und verarbeitet. Oberflächlich betrachtet wird man in seinen Arbeiten auch Anleihen bei der Kunst des Zwanzigsten Jahrhunderts entdecken, etwa bei der Farbfeldmalerei, beim Fotorealismus, bei der Pop Art oder bei Gerhard Richter, deren Tendenzen Elsner jedoch durch seine ausgefeilten Mal- und Zeichentechniken nicht nur modifiziert, sondern ebenfalls hinterfragt. Ohne genaue Kenntnis seiner zeitaufwändigen Arbeitsvorgänge sind die Ästhetik und die inhaltliche Deutung seiner verschiedenen Werkgruppen kaum zu entschlüsseln. Auch der Künstler selbst neigt dazu, sich aus der vordersten Reihe des Kunstbetriebs in die meditative Stille seines Berliner Ateliers zurückzuziehen und eher leise über sich und seine Arbeit zu sprechen. Dabei hat er umfangreiche Werkgruppen, lange Listen an Einzel- und Gruppenausstellungen und Kataloge vorzuweisen, die die einzelnen Phasen seines bisher entstandenen Werks detailliert dokumentieren.

Zurück in seine Studienzeit datiert eine Serie von zwanzig kleinformatigen, inszenierten Farbfotografien, die den Künstler in verschiedenen Berufen zeigen, als Dönerverkäufer, Lehrer, Landwirt, Mediziner, Orchestermusiker oder Polizist (Abb. 1-8 . ), und die auf verschiedenen Ebenen die Frage nach der eigenen Identität stellen: Sind es Berufe, in denen er sich selbst vorstellen kann, die er tatsächlich einmal ausgeübt hat oder in deren Szenerie er uns in immer neuen Kostümen wirklichkeitsgetreue Einblicke gibt? Als Set reproduziert (Abb. 9 . ) wird das konzeptuelle Prinzip der Kunstaktion deutlich. In Einzelaufnahmen in den sozialen Medien gepostet oder in Wiesbaden an verschiedenen Stellen in der historischen Schausammlung gezeigt, bleibt die Verunsicherung, ob uns der Künstler tatsächlich sich selbst, „Slawomir“ (1999), oder die Funktion privater Schnappschüsse zwischen Momentaufnahme, Dokumentation und Selbstinszenierung mit all ihren technischen und bildimmanenten Defiziten vor Augen führt.

Die Fotografie blieb für ihn, wenn auch auf anderer Ebene, das grundlegende bildvorbereitende Medium, indem er begann, eigene Schnappschüsse in Aquarelle und später in Farbstiftzeichnungen zu übertragen. In der Serie „1. November“ (Abb. 10 . ), zu der zwischen 1999 und 2002 fünf Aquarelle entstanden, konzentrierte sich der Künstler auf die Licht- und Farbphänomene, die aus der Unterbelichtung der vorangegangenen Nachtaufnahmen resultieren. Er setzt die emotionale Stimmung ins Bild, die entsteht, wenn in Polen am katholischen Feiertag Allerheiligen Angehörige die Friedhöfe besuchen, um die Gräber ihrer Verwandten mit Blumen zu schmücken und Kerzen anzuzünden. Das in der Dunkelheit entstandene Lichtermeer beleuchtet die menschliche Existenz zwischen Vergänglichkeit, Gedenken und lebendiger Gegenwart.

 

Lichtphänomene stehen auch im Zentrum mehrerer Serien von Farbstiftzeichnungen, die zwischen 2003 und 2010 nach eigenen oder fremden Fotografien entstanden und von denen einzelne Beispiele in der Wiesbadener Ausstellung zu sehen sind. Die abgebildeten Lichtspektakel gehen auf Katastrophen zurück wie die neunzehnteilige Serie „Landschaft“ (2003) und die 2004-05 entstandene zwölfteilige Folge „Feuerwerk und Luftabwehr“, die nach Aufnahmen von Silvesterfeuerwerk und nach Kriegsfotografien aus dem Kosovo und dem Irak gezeichnet sind. Letztere zeigen abwechselnd und in mittelgroßem Format Licht- und Farbeffekte von friedlicher Pyrotechnik und von kriegerischen Handlungen, die kaum voneinander zu unterscheiden sind. 2005-07 übertrug Elsner in siebzehn Arbeiten mit dem Serientitel „Unsere Sonnen“ die Lichterscheinungen von Atomexplosionen aus Pressefotos in das Medium der Farbstiftzeichnung. Analog zu den Fotografien bleiben die vom gleißenden Licht überstrahlten Flächen weiß, wie die in der Ausstellung gezeigte Arbeit „270 Kilotons“ zeigt. Das Bild eines in dunkler Nacht in Warschau brennenden Automobils gehört zu einer 2009 entstandenen dreiteiligen Serie mit dem Titel „Paris, Berlin, Warszawa“ (alle Abb. 11 . ). Mit lapidaren Titeln, die alle Möglichkeiten der Interpretation offen lassen, arbeitet Elsner hier an einer Ästhetik des Schreckens, deren Thematik an Andy Warhols Serie „Death and Disaster“ (1962-65) und vor allem an dessen mehrfach variierte und ebenfalls nach Pressefotos gearbeitete Siebdrucke „Atomic Bomb“ und „Car Crash“ erinnert.

Größere Distanz als nur durch die Titel schuf Elsner in seinen Arbeiten zu der im kollektiven Gedächtnis wohl am tiefsten verankerten Katastrophe der vergangenen Jahrzehnte, den Terroranschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001. Anstatt auf die bekannten Pressebilder der brennenden und schließlich einstürzenden Twin Towers griff er in seiner 2008 bis 2010 geschaffenen großformatigen Farbstiftserie „Windows on the World“ auf eigene, wenige Monate vor dem Anschlag entstandene Fotografien zurück. In der elfteiligen Serie, von der vier Arbeiten in Wiesbaden zu sehen sind (Abb. 12-15 . ), verwendete er Aufnahmen als Vorlagen, die er selbst 2001 aus den Fenstern des gleichnamigen Clubs Windows on the World im 107. Stockwerk des Nordturms der Gebäude in alle Himmelsrichtungen über New York sowie im Inneren des Bar-Restaurants fotografiert hatte. Auch hier bilden die Lichteffekte und die aus den Nachtaufnahmen resultierenden Unschärfen und Farbverfälschungen den Gesamteindruck.

Während sich Warhol in den Sechzigerjahren für die Popularisierung von Bildmedien und die aus ihnen entstehende Sensationslust interessierte und aus dieser Thematik neue ikonische Bildwelten schuf, analysiert man heute die Erzählstränge und Headlines schlagkräftiger Bilder in ihren Beziehungen zu den verschiedenen Ebenen des kollektiven Gedächtnisses. In der aktuellen überbordenden Medien- und Informationswelt stehen Bildikonen eher als Auslöser für Erinnerungen und Emotionen, zu denen sich in Printmedien und im Internet mehr oder minder austauschbare Erzählungen, Analysen und Subtexte hinzugesellen. Elsner hinterfragt und analysiert solche Bildikonen, Pressebilder und Privatfotografien mit künstlerischen Mitteln, indem er ihre Komposition, ihre Farbigkeit und ihren emotionalen Gehalt minutiös, in wochenlanger Arbeit und mit hoher Konzentration in dichte Schraffuren aus präzisen Linien mit immer neuen Farbstiften und in großes Format überträgt.

 

Diese Arbeit ist so diffizil aufgeführt, dass die neu entstandenen Werke aus der Ferne und in Reproduktionen wie Fotografien oder Siebdrucke wirken. Erst am Original und in der Nahsicht offenbart sich ihre Zusammensetzung aus unendlich vielen differenzierten farbigen Linien. Elsner schafft durch seine künstlerische Arbeit eine Distanz zum Bildmotiv, die Fragen nach dessen Authentizität und emotionaler Wirkung provoziert und die gleichzeitig den Übergang von einem Medium zum anderen, also von der Fotografie zu einem völlig neu geschaffenen Kunstwerk, der Farbstiftzeichnung, ermöglicht. Mit seiner langwierigen, geradezu meditativ ausgeübten Zeichentechnik und den lapidaren, zu Serien verbundenen Werktiteln tritt er in größtmögliche Distanz zu Bildthemen, die tief im kulturellen Gedächtnis verankert sind, und bewirkt damit Möglichkeiten zu deren Neubewertung und Analyse. Vor allem appelliert die hohe ästhetische Wirkung seiner Arbeiten, die aus dem Gegensatz zwischen tiefem Dunkel und gleißenden Lichtern und der präzisen Zeichentechnik resultiert, an die in unserer Erinnerung gespeicherten Emotionen und Bewertungen der jeweiligen Katastrophen. Vielleicht verstärkt sie sie auch nur: „Die Schönheit der Atomexplosion“, schreibt Anne-Marie Bonnet im Wiesbadener Katalog, „mindert nicht deren erschreckende Zerstörungsgewalt, im Gegenteil, sie verschärft deren unfassbare Grausamkeit“.

„Bilder vermitteln Vorstellungen, transportieren Emotionen, sind sinnlich aufgeladen“, schreibt Lea Schäfer in ihrem Beitrag und meint die nach Vorlagen gezeichneten Arbeiten von Elsner. Dies gilt jedoch nicht weniger für die ungegenständliche Kunst, so Niels Ohlsen in seinem Text über Elsners nächste große Werkgruppe, die abstrakten Aquarelle mit dem Serientitel „Just Watercolors“ (Abb. 16-24 . ), bei denen „das Kunstwerk vom narrativen Objekt zum Teil der erlebten Realität“ wird. Aus diesem Grund konfrontiert die Wiesbadener Ausstellung, die Andreas Henning und Lea Schäfer kuratiert haben, die gegenständlichen Zeichnungen und die abstrakten Aquarelle direkt nebeneinander, da sich so Kongruenzen und Unterschiede bei farblichen Differenzierungen, Verläufen und Strukturen, bei der Kontrastfindung zwischen tiefer Dunkelheit und strahlendem Licht, der Bewältigung der großen Formate und der Papiertexturen anhand der verschiedenen Themen und Techniken studieren lassen.

„Hauchdünne Schichten, tiefe Farbräume, die uns zum Eintauchen einladen, scharfe Trocknungsränder, unmerkliche Verdichtungen der Pigmente sind das, was uns beim Betrachten von Slawomir Elsners Aquarellen sogleich auffällt und nicht mehr loslässt“, schreibt Ohlsen im Katalog. Der Künstler spannt feuchte Bögen des großformatigen Büttenpapiers auf und streicht die wässrige Pigmentlösung der jeweiligen Farben in breiten Schichten mit einem Flachpinsel auf. Beim Auftragen weiterer Lagen der lasierenden, also durchscheinenden Farben auf das immer wieder angefeuchtete Papier in häufig mehr als einhundert Durchgängen wird eine immer intensivere und tiefere Sättigung erreicht. Das gesamte Verfahren erfordert eine intensive Kenntnis der Papiere, der Farblösungen, der Trocknungsprozesse und der mechanischen Arbeitsvorgänge, da sich Fehler wie Risse im Papier oder Tropfen auf bereits getrockneten Schichten nicht mehr rückgängig machen lassen. Das Resultat sind Bildtafeln von immer noch durchscheinender, zugleich aber hoher Strahlkraft, wie man sie sonst von der aus vielen Schichten bestehenden Lasurtechnik der altmeisterlichen Ölmalerei kennt.

 

In der allgemeinen Beachtung häufig unterbewertet, gehört die Aquarellmalerei zu den kompliziertesten künstlerischen Techniken. Bei der Steuerung der Farbdichte, der nassen Verläufe, der lasierenden Farbüberschneidungen und der Trocknung der sich am Ende zusammenziehenden und wellenden Papiere erreichten die Expressionisten, insbesondere Emil Nolde, hohe Meisterschaft. Natürlich sind Meisterleistungen in dieser Technik von Albrecht Dürer, William Turner über Paul Cézanne und Paul Klee bis zu Maria Lassnig bekannt. Dennoch sind sowohl die Buntstiftzeichnung als auch die Wasserfarbenmalerei in den letzten einhundert Jahren eher in die schulische Kunsterziehung abgewandert. Elsner belebt diese zuletzt in der professionellen Kunst vernachlässigten Techniken auf höchstem Niveau und in großem Format neu und macht sie wieder sinnlich erfahrbar.

In seinen Aquarellen schafft Elsner mit teils wandfüllenden Formaten abstrakte Farbräume, die einen Farbton oder zwei (nicht unbedingt komplementäre) Farben in Helligkeit, Dichte und Verläufen variieren (Abb. 16-18 . ), zentrierte Lichtwolken oder Horizonte thematisieren (Abb. 19-20 . ) oder sich am Spektrum des Farbkreises orientieren (Abb. 21-23 . ). Aber auch andere Farbkombinationen und Lichtkonstellationen werden vom Künstler neu ins Bewusstsein geholt. Den aus der Natur abgeleiteten Erfahrungen fügt Elsner mit deutlich sichtbaren (oder erstaunlicherweise auch völlig unsichtbaren) Spuren der künstlerischen Prozesse neue Erkenntniswerte, „erlebte Realität“, hinzu. Wer bestimmte Farben oder deren Kombinationen, zudem in der von Elsner vorgetragenen Intensität, mit Gefühlen oder Emotionen verbindet, kann sich auf Goethes „Farbenlehre“ und deren Nachwirkungen in der modernen Farbpsychologie berufen.

Parallelen zur Farbfeldmalerei der US-amerikanischen Künstler der 1950er- und 60er-Jahre wie Barnett Newman, Mark Rothko oder Ad Reinhardt oder der deutschen Maler Gotthard Graubner und Rupprecht Geiger sind nicht zu übersehen. Mit allen Vorläufern, die sich sämtlich mit der Ölmalerei und wie Geiger mit dem Siebdruck beschäftigten, verbindet man jedoch zahlreiche differenzierte inhaltliche Zugänge und andere künstlerische Techniken, die mit denen von Elsner nur peripher zu tun haben. Vergleicht man beispielsweise mit Geiger, so findet man in dessen großformatigen Gemälden ebenfalls Farb- und Lichtverschiebungen und dynamische Farbräume, die inhaltlich aber mit mentalen Implikationen wie Macht, Energie, Liebe, Wärme und Kraft einhergehen. Die Druckflächen von Geigers Serigraphien sind derart empfindlich, dass jeder manuelle Zugriff ihre Unversehrtheit zerstört. Da sind Elsners Aquarelle schon von der Technik her diesseitiger, haptischer und zupackender, ohne dass sie an ästhetischer Differenzierung, Ausstrahlung und Intellektualität verlieren. Die sechzehn in der Ausstellung gezeigten Arbeiten gehören zu einer seiner umfangreichsten Werkgruppen, die seit 2015 entstanden ist und nach dem im Katalog dokumentierten Werkverzeichnis bislang über neunzig Arbeiten unterschiedlicher Formate umfasst.

2014 begann Elsner nach länger zurückliegenden Studien mit künstlerischen Analysen von berühmten Gemälden aus europäischen und US-amerikanischen Museen in Form von Farbstiftzeichnungen, die dasselbe Format wie die jeweiligen Ölbilder haben (Abb. 24-33 . ). Er kopiert aber nicht das jeweilige Sujet und die erzählerischen Details, sondern überträgt stattdessen die Farbverteilung und die Lichtführung der Vorbilder in ausgesprochen unscharf wirkende Gewebe aus feinen farbigen Linien. Es ist diese Werkgruppe, der die Ausstellung „Präzision und Unschärfe“ ihren Namen verdankt und zu der Anne-Marie Bonnet in ihrem Katalogbeitrag „Paradoxien der Schönheit“ zurecht fragt, was daran nun eigentlich exakt oder „präzise“ sei: „Eher handelt es sich um ein Netz, ein Raster, ein dichtes Gewebe von Strichen, in dem keine einzelne, bezeichnende oder konturierende Linie vorkommt, wie man sie von Zeichnungen gewohnt ist. Jeder Strich ist zwar scharf, bezeichnet als einzelner jedoch nichts, sondern entfaltet Wirkung erst im Zusammenspiel mit anderen Strichen, anderer Farbe, anders gesetzt; so entstehen diffuse Farbstimmungen, changierende Nuancen. Es wird keine Farbe eingesetzt, sondern Farb- und Lichtzonen werden kreiert.“

Diese bis zuletzt 144 Werke umfassende Serie mit dem Obertitel „Imaginary Memory“, aus der in der Ausstellung siebzehn Arbeiten gezeigt werden, ist die bislang umfangreichste in Elsners Werk. Diese Werkreihe war bereits Anlass für vorangegangene Ausstellungen. 2015 zeigte Elsner im Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof in Stuttgart unter dem Titel „Nichts ist wie es scheint“ Arbeiten, die sich mit Kunstwerken in der Stuttgarter Staatsgalerie beschäftigten: die Farbstiftzeichnung „Bildnis der Agnes von Hayn, geb. von Rabenstein“ (2015) nach dem Gemälde von Lucas Cranach dem Jüngeren sowie eine monumentale Wandgestaltung aus Wandfarben und Papier nach dem vierteiligen „Herrenberger Altar“ von Jerg Ratgeb. Für eine Ausstellung in den Museen Böttcherstraße in Bremen mit dreißig Arbeiten, in der auch Zeichnungen zum World Trade Center zu sehen waren, befasste er sich als Sommergast unter dem Titel „Cranach zum Quadrat“ mit sechs Cranach-Gemälden (des Älteren und des Jüngeren) aus der Sammlung des Ludwig-Roselius-Museums. Seine Zeichnung „Der Turm der blauen Pferde“ (2016) nach Franz Marc war 2017 in der Ausstellung „Vermisst. Der Turm der blauen Pferde von Franz Marc. Zeitgenössische Künstler auf der Suche nach einem verschollenen Meisterwerk“ in der Staatlichen Graphischen Sammlung München zu sehen, in deren Sammlung sie sich auch heute noch befindet. In der Ausstellung „Comeback. Kunsthistorische Renaissancen“ der Kunsthalle Tübingen im Jahre 2019 war Elsner mit der im Vorjahr entstandenen Arbeit „Madonna im Grünen“ nach dem Original von Raffael im Kunsthistorischen Museum Wien vertreten. 2020 lud das Münchner Lenbachhaus den Künstler ein, sich in der Sammlung Blauer Reiter mit zwei zentralen Gemälden aus dem Umkreis der expressionistischen Künstlergruppe zeichnerisch auseinanderzusetzen, nämlich mit den Bildnissen des Tänzers Alexander Sacharoff von Marianne von Werefkin und von Alexej von Jawlensky.

 

Auch das Museum Wiesbaden erbat sich anlässlich der neuesten Ausstellung Elsners Beschäftigung mit Gemälden aus der Schausammlung: der „Spanierin (Frau vor grauem Hintergrund)“ (Titelbild . , Abb. 24-25 . ) und der „Dame mit Fächer“ von Jawlensky sowie mit dessen Selbstbildnis von 1912 (Abb. 26 . ), dann mit dem „Liebespaar“ von Otto Mueller (Abb. 27-28 . ) und dem „Schmetterlingsfänger“ von Carl Spitzweg (Abb. 29 . ), wobei die Auswahl dem Künstler überlassen blieb. Fast alle der über die Jahre von Elsner für die Serie „Imaginary Memory“ ausgewählten Gemälde sind weltweit populär, wurden hundertfach abgebildet und gehören zweifellos zum kulturellen Gedächtnis der Menschheit. Elsners Übertragungen, nach Abbildungen oder Fotografien gezeichnet, appellieren in ihrer Gesamtheit an das kulturelle Gedächtnis und stellen uns auf die Probe, was von ihnen in unserer Erinnerung erhalten geblieben ist. Die Titel sind natürlich ein hilfreiches Indiz und bei Bronzinos „Allegorie der Liebe“ (Abb. 32 . ), Muellers „Liebespaar“ (Abb. 27 . ) und erst recht bei Vermeers „Mädchen mit dem Perlenohrring“ (Abb. 30 . ) wird das gelingen. Es kann aber auch schiefgehen, wie Anne-Marie Bonnet schreibt, die Elsners Zeichnung „Der Turm der blauen Pferde“ nach Franz Marc (Abb. 28 . ) „zunächst für ein Madonnen-Bild hielt“ und für die „nach Wahrnehmung des Titels viele ‚Kippmomente‘ des Sehens-Wissens-Erkennens (entstanden), die einen eigenen Reiz entfachten“.

Der Künstler selbst befeuert solche „Kippmomente“, indem er für eine kleinere Serie mit dem Titel „Imaginary Present“ ein „Mädchen mit den Perlenohringen“ (2018, Abb. 31 . ) diesmal in Vorderansicht hinzu erfand, das nun natürlich – allerdings nur im Titel, denn Details fehlen in seinen Arbeiten bekanntlich – zwei entsprechende Schmuckstücke tragen sollte. Zum (nicht in der Ausstellung gezeigten) „Bildnis eines unbekannten jungen Herrn“ (2017, nach Ludger tom Ring dem Jüngeren) gesellte er 2020 das „Bildnis einer bekannten Dame“ und hängte die Zeichnung nach einem privaten Foto in der Wiesbadener Ausstellung wie beiläufig neben seine Arbeiten nach berühmten Kunstwerken (Abb. 25 . ). „Bleibt das Sujet auch nach Bekanntwerden des Titels mehrdeutig“, so Bonnet, „so entfaltet sich gleichsam das Toxische an/in Elsners zeichnerischer malerischer Strategie“.

Elsners Evokationen, analysiert Bonnet und meint damit seine zeichnerischen Bearbeitungen seit  den frühen Katastrophen-Sujets, „erinnern uns daran, dass jedes Bild eine Herausforderung ist, sich ein Bild zu machen, ein Bild der eigenen Erwartungen und Bereitschaft zur visuellen Erfahrung und Erkenntnis. Wieviel projiziert man und wieviel erkennt man? Wie schaut man auf ein Plakat und wie auf einen Rubens? Wieviel ist kulturelle Vereinbarung und wieviel authentisches eigenes Erleben?“ Die bisherigen Museumsstationen und auch die Wiesbadener Ausstellung haben sich auf Elsners Strategie des Appells an das kollektive Gedächtnis eingelassen, indem sie zwischen den historischen Originalen und seinen Arbeiten große räumliche Distanzen eingehalten haben. So hingen während der Ausstellung im Stuttgarter Hospitalhof die historischen Vorlagen natürlich auch weiterhin in der Staatsgalerie Stuttgart. Marianne von Werefkins „Tänzer Alexander Sacharoff“ befand sich nach einer früheren Ausstellung im Lenbachhaus längst wieder in seinem eigentlichen Zuhause in Ascona und auch in Wiesbaden muss man lange Wege von Elsners Ausstellung in die historische Schausammlung des Museums zurücklegen.

 

Nicht in der Wiesbadener Ausstellung berücksichtigt sind mehrere Serien von Farbstiftzeichnungen, die der Künstler ab 2006 nach Cindy Shermans „Untitled Film Stills“ und unter den Titeln „Populaires“, „Displaced“, „Odyssee“ und „Selfshots“ nach Fotografien und mit unterschiedlichen konzeptionellen Implikationen gearbeitet hat. Sie wurden 2012 anlässlich der Verleihung des Falkenrot Preises an den Künstler im Künstlerhaus Bethanien in Berlin gezeigt und sind durch den begleitenden Katalog dokumentiert. 2006 zeigte die Galerie Gebr. Lehmann in Dresden Elsners Ölgemälde aus der Serie „Panorama“, zu der im selben Jahr nicht weniger als 130 Bilder in unterschiedlichen Größen vom Kabinettstück bis zum wandfüllenden Format entstanden sind, und gab dazu zwei Jahre später einen umfangreichen Katalog heraus. In dieser Serie übertrug der Künstler Zeitschriftenfotos aus dem Jahrgang 1976 der in Kattowitz erschienenen Publikumszeitschrift „Panorama“, also aus seinem Geburtsjahr, in die Ölmalerei. Die Besonderheit der Zeitschriftenbilder bestand darin, dass sie aus westlichen Presseprodukten ausgeschnitten und nachgedruckt worden waren um der sozialistischen Wirklichkeit in Polen eine gewisse Weltoffenheit gegenüberzustellen, die noch dazu in ebenfalls reproduzierten Pin-up-Girls, den „Mädchen der Woche“, gipfelte. Elsner dokumentierte in seinen Gemälden nicht nur die graphischen und farblichen Unvollkommenheiten dieser Wiederabdrucke, sondern hielt vor allem „die Wurzeln und politischen Bedingungen der zeitgenössischen visuellen Kultur“ im Bild fest, wie der Warschauer Kunsthistoriker, Publizist und Galerist Łukasz Gorczyca im Katalogbuch schreibt. Elsner habe analysiert „wie grafische und politische Deformationen unser Bewusstsein, unsere Sensibilität und unsere historische Erinnerung bis heute prägen“.

Die Wiesbadener Ausstellung geht einher mit der für das Jahr 2020 erfolgten Verleihung des Otto-Ritschl-Preises an Sławomir Elsner. Der Preis wird vom Museumsverein Ritschl e.V. in Zusammenarbeit mit dem Museum verliehen und ist mit einem Preisgeld und der vom Museum ausgerichteten Ausstellung verbunden. Verliehen wird der Preis im Andenken an den in Wiesbaden ansässigen Schriftsteller und Maler Otto Ritschl (1885-1976), einen herausragenden Vertreter der abstrakten Kunst. Er geht an überregional bedeutende Künstlerinnen und Künstler, deren Werk „thematisch Farbe und Farbraum zum Gegenstand hat“ und wurde zuvor 2001 an Gotthard Graubner, 2003 an Ulrich Erben, 2009 an Kazuo Katase und 2015 an Katharina Grosse verliehen. Anlässlich der Preisverleihung führte Andreas Henning, Direktor des Museums Wiesbaden und Mitglied der Jury aus: „Schon seit vielen Jahren beobachte ich das hohe künstlerische Niveau und die beeindruckende Konsequenz, mit der Elsner sich den malerischen Grundphänomenen Licht und Farbe zuwendet und dabei eine sehr eigenständige Position im zeitgenössischen Kunstgeschehen entwickelt.“

Axel Feuß, Februar 2022

 

Literatur:

Slawomir Elsner. Präzision und Unschärfe / Precision and Chance, herausgegeben von Andreas Henning und Lea Schäfer, Ausstellungs-Katalog Museum Wiesbaden und Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft, Berlin, 2021 (mit Aufsätzen von Lea Schäfer: Zur Aneignung des visuellen Gedächtnisses – Bilddiskurse im Frühwerk von Slawomir Elsner; Anne-Marie Bonnet: Paradoxien der Schönheit – Slawomir Elsners zeichnerisch-malerische Evokationen; Nils Ohlsen: Lichtatem – Slawomir Elsners abstrakte Aquarelle; 144 Seiten, deutsch/englisch)

Sławomir Elsner. Colored Pencil Drawings. Falkenrot Preis 2012, Ausstellungs-Katalog Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2012 (mit Texten von Raimar Stange: Windows on the World. Kunst nach Nine-Eleven; Natalie de Ligt: Populaires. Bilder entstehen im Kopf; Esther Ruelfs: Stills. An den Rändern des Mediums; Chris Lünsmann: Phantome. Die im Dunkeln sieht man doch; Karin Pernegger: Selfshots. Die Löschung des Selbstbildnisses; 96 Seiten, deutsch/englisch)

Sławomir Elsner. Panorama, Ausstellungs-Katalog Galerie Gebr. Lehmann, Dresden/Berlin, Köln: Dumont-Buchverlag, 2008 (mit einem Text von Łukasz Gorczyca: Panorama, 1976; 158 Seiten, polnisch/deutsch/englisch)

 

Links:

Curriculum Vitae von Sławomir Elsner auf der Webseite der Galerie Gebr. Lehmann, Dresden/Berlin, zuletzt vervollständigt bis 2021, https://www.galerie-gebr-lehmann.de/artists/slawomir-elsner/cv/

Ausstellung im Hospitalhof Stuttgart, 2015, https://www.hospitalhof.de/kunst/ausstellungen-archiv/slawomir-elsner-nichts-ist-wie-es-scheint/

Ausstellung als Sommergast 2017 in den Museen Böttcherstraße in Bremen, https://www.museen-boettcherstrasse.de/ausstellungen/sommergast-2017-slawomir-elsner/

Ausstellung in der Sammlung Blauer Reiter des Lenbachhauses München 2020, https://www.lenbachhaus.de/entdecken/ausstellungen/detail/slawomir-elsner

Ausstellung „Präzision und Unschärfe“ im Museum Wiesbaden, 2021/22, https://museum-wiesbaden.de/slawomir-elsner 

Interview mit Ritschl-Preisträger Sławomir Elsner auf der Webseite der Freunde des Museums Wiesbaden, 2021, https://www.freunde-museum-wiesbaden.de/news/interview-mit-slawomir-elsner/

(Alle Links wurden zuletzt im Februar 2022 aufgerufen.)