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Anatol Gotfryd

Anatol Gotfryd im Garten seiner Berliner Villa, 4.4.2018

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Die Villa von Danuta und Anatol Gotfryd, 2018
Anatol Gotfryd im Garten seiner Berliner Villa, 4.4.2018

Anatol Gotfryd kommt am 3. Oktober 1930 in Jablonow [poln. Jabłonów] zur Welt, einer Kleinstadt im südöstlichen Teil der ehemaligen polnischen Ostgebiete, den „Kresy“ (heute Ukraine). Zur Zeit der Zweiten Polnischen Republik war diese Region ein Schmelztiegel aus Polen, Juden, Ukrainern, Deutschen und Ungarn. Diese multikulturelle Gesellschaft im entlegenen polnischen Galizien prägte ihn, wie er 2018 im Interview für die Sendung „COSMO Radio po polsku“ sagt.[1]

Er wächst in einer vermögenden jüdischen Familie auf. Seine Großeltern mütterlicherseits zogen aus der Umgebung von Wien nach Galizien. Als er kaum zwei Jahre alt ist, stirbt sein Vater, der sich bei einem Patienten mit Miliartuberkulose angesteckt hat. Die entscheidenden Kindheitsjahre verbringt der junge Anatol, genannt Tolek, bei diesen liebevollen Großeltern. Auch wenn in ihrem Hause polnisch gesprochen wird, pflegt die Familie jüdische Traditionen. Die Kinder erhalten eine solide Ausbildung und Sprachkenntnisse mit auf ihren Weg, was ihnen die Chance gibt, in die Welt hinauszugehen. 

1938 zieht Tolek in die benachbarte Stadt Kolomea [poln. Kołomyja], in der seine Mutter wohnt, die erneut geheiratet hat. Kolomea war damals eine lebendige, pulsierende Kreisstadt, deren Bewohner zur Hälfte Juden waren. Ein Jahr später wurde diese vermeintlich sichere galizische Idylle durch den Einmarsch der Roten Armee aufgehoben und zwei Jahre später durch die deutsche Besatzung beendet. 18.000 Juden in Kolomea, auch die Familienmitglieder von Anatol Gotfryd, wurden hinter Ghettomauern verschlossen. 

Im Herbst 1942 deportierten die Deutschen die Juden aus Kolomea in das KZ Belzec [poln. Bełżec], in dem rund 450.000 Menschen ermordet wurden.In einem der Viehwaggons hielt sich auch der 12 Jahre alte Tolek mit seiner Familie auf, wobei derTransport unter schier unmenschlichen Bedingungen erfolgte. Viele Menschen starben in den überfüllten Waggons an Hitze, Dehydrierung und Hunger. „Zum ersten Mal an diesem Tag weinte ich. Da ich selbst als einer der Letzten in den Waggon gelangt war, hatte ich großes Glück“, erinnert sich Anatol Gotfryd in seinem autobiographischen Roman „Der Himmel in den Pfützen“.[2] Nur weil dem Jungen in seinem Waggon ein Platz an einer undichten Tür zugefallen war, blieb ihm Luft zum atmen. Als einer der Zuginsassen ein Luftgitter zerstörte, sprang Tolek mit seiner Mutter und seinem Stiefvater aus dem fahrenden Zug. Auf der Flucht hielt ihn ein ukrainischer Ordnungshüter an. Und er hatte abermals Glück: Der Polizist ließ ihn laufen. 

Nach der Flucht auf dem Transport nach Belzec gelangten Tolek und seine Eltern nach Lemberg (heute Lwiw). Dort erhielt er eine neue Identität und gab sich bis zum Kriegsende als katholischer Junge Roman Czerwiński aus. Dies war möglich, weil er arisch aussah und Polnisch sprach. Die Zeit der deutschen Besatzung und des Warschauer Aufstands überlebte er nur dank der Fürsorge von Polen, Ukrainern und Deutschen. 

Zu Ehren seiner Retter schrieb er sechzig Jahre später den autobiographischen Roman „Der Himmel in den Pfützen. Ein Leben zwischen Galizien und dem Kurfürstendamm”, der in Deutschland 2005 im wjs-Verlag erschien. Sechs Jahre später erschien die polnische Übersetzung aus der Feder von Katarzyna Weintraub unter dem Titel „Niebo w kałużach“ im Verlag Czarna Owca.
 

[1] COSMO, Radio po polsku, 2018, https://www1.wdr.de/radio/cosmo/programm/sendungen/radio-po-polsku/ludzie/anatol-gotfryd-100.html


[2] Anatol Gotfryd, Der Himmel in den Pfützen. Ein Leben zwischen Galizien und dem Kurfürstendamm, wjs-Verlag, Berlin 2005, S. 90.

„Ich habe viel über Menschen nachgedacht, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um andere zu retten. Warum hat die Bukowiecka vier Leute aufgenommen? Ganz sicher nicht des Geldes wegen. (...) Ich glaube, es war eine Mischung aus schelmischer Verwegenheit, Abenteuerlust und – wie bei der Storoschtschakowa – spontaner Hilfsbereitschaft. [3] Die Bukowiecka, der einer Kneipe an der Weichsel gehörte, versteckte den Jungen und seine Verwandten fünf Monate lang in einem kleinen Zimmer im Warschauer Stadtteil Mokotów. Der Storoschtschakowa verdankte Tolekwiederum, dass er bei polnischen Bauern Unterschlupf fand und ihnen bei der Landwirtschaft zur Hand gehen konnte. Zeitweilig wohnte er sogar beim stellvertretenden Leiter der deutschen Polizei in Lemberg, der mit der Tochter von Frau Storoschtschakowa befreundet war.

Nach dem Ende des Kriegs konnte Anatol Gotfryd nicht mehr in seine alte Heimat zurück. Kolomea und Jablonow waren bereits an die Sowjetunion gefallen. Er gelangte nach Lublin, wo er im Perec-Haus, einem Sammelpunkt für Juden, die den Holocaust überlebt hatten, unterkam. Sein erstes Geld verdiente er mit dem Verkauf von Zigaretten auf dem dortigen Markt. Schließlich gelang es ihm bald, seine aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten ausgesiedelten Eltern wiederzufinden. Die Familie ließ sich daraufhin in Kattowitz [poln. Katowice] nieder, wo Anatol das Mikołaj-Kopernik-Gymnasium besuchte. 

Glücklichen Umständen hatte er dann zu verdanken, dass er seine Ausbildung an einer weiterbildenden Schule für angehende Dentisten fortsetzen konnte, obwohl er die Aufnahmeprüfungen verpasste. Ein ehemaliger Mitbewohner des Perec-Hauses, der, wie sich herausstellte, Leiter der Prüfungskommission war, erkannte ihn wieder und setzte ihn auf die Schülerliste. Anatol zog in das jüdische Internat in der Oławska-Straße, das amerikanische Hilfsorganisationen unterhielten, und wurde in den Vorstand des Schulrats berufen. Als die Einrichtung von der kommunistischen Regierung übernommen wurde, musste er dort weichen. 

Im Oktober 1951 nahm er an der Medizinischen Akademie in Breslau [poln. Wrocław] sein Studium der Zahnmedizin auf und wurde zum Sprecher der Erstsemester gewählt. In diesem Studium lernte er seine spätere Ehefrau Danuta Rotkiewicz kennen. 1955 erhielten beide ihre Abschlussdiplome. 

Danutas Vater war als Berufsoffizier in der Festung Brest [heute Weißrussland] stationiert, wo er im September 1939 bei Kämpfen ums Leben kam. Das Mädchen hatte eine sehr enge Bindung zu ihrem Vater und war damals kaum fünf Jahre alt. In Erinnerung blieben ihr gemeinsame Aktivitäten im Garten. Aus Furcht, nach Sibirien verschleppt zu werden, floh sie mit ihrer Mutter nach Włodawa [heute an der Grenze zu Weißrussland und der Ukraine]. Nach dem Krieg ließ sie sich in Schlesien nieder. 

Ihre ersten Beschäftigungen fanden die beiden frisch gebackenen Zahnärzte in Katowice, Danuta in einer Schule und Anatol in einer staatlichen Ambulanz. Da sie jedoch im kommunistischen Polen keine Zukunft für sich sahen, beschlossen sie, nach Kanada auszuwandern. Als sich dann herausstellte, dass die direkte Einreise nicht möglich sein würde, fiel die Entscheidung, zunächst nach Westberlin zu gehen. Die Vervollständigung der dafür nötigen Unterlagen und die Beschaffung von Geld nahmen anderthalb Jahre in Anspruch. Verwandte steuerten 1.000 Dollar bei, mit denen die beiden die polnische Bürgermiliz bestachen, um die Ausreisegenehmigung zu erhalten. 

Am 24. Mai 1958 stieg das Ehepaar Danuta und Anatol Gotfryd am Ostberliner Bahnhof Lichtenberg aus, ohne zu ahnen, dass die Stadt für die nächsten sechzig Jahre ihr Zuhause sein würde. Anfangs wohnten sie bei Verwandten im Westberliner Villenviertel Grunewald.

 

[3] Anatol Gotfryd, Der Himmel in den Pfützen ... , S. 121.

 

Warum sie sich für Deutschland entschieden, erklärt Anatol Gotfryd in dem Interview für „COSMO Radio po polsku“folgendermaßen: „Ich hatte in mir keine Feindschaft gegenüber den Deutschen verspürt. Die SS beziehungsweise die Gestapo haben wir nicht mit dem ganzen deutschen Volk gleichgesetzt. Ein Teil meiner Familie stammte aus Österreich und wuchs in dieser Sprache auf, deshalb war uns diese Kultur nicht fremd. Wir hatten viele Freunde unter den Deutschen und die Familie hat den Kontakt zu ihnen gleich nach dem Krieg wieder aufgenommen. Unsere Ausreise nach Berlin war absolut nichts Exotisches.[4]

Die Gotfryds besuchten Deutschkurse und arbeiteten inoffiziell in verschiedenen Zahnarztpraxen, wobei sie sich diesbezüglich oft mit der deutschen Bürokratie herumschlagen mussten. Um als Zahnarzt arbeiten zu dürfen, brauchte man eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung, was bei Bürgern aus Osteuropa ein äußerst schwieriges Unterfangen war. Die beiden schrieben sich dann als freie Hörer an der Zahnklinik der Freien Universität Berlin ein, um dort zu promovieren.

Einige Monate später kehrte Anatol Gotfryds Glückssträhne wieder zurück. Er erfuhr, dass die amerikanische Armee auf der Suche nach Zahnärzten sei und dass sie von den Ärzten keine Arbeitsgenehmigungen verlange. Daraufhin meldete er sich im US-Hauptquartier an der Clay-Allee und legte dort eine praktische Berufsprüfung ab. Das polnische Ehepaar wurde daraufhin in der „Dental Clinic“, einem Militärkrankenhaus, im Dienstrang von Leutnants eingestellt. 

Für die jungen Einwanderer war dies wie ein Hauptgewinn im Lotto. Die Beschäftigung bei der amerikanischen Armee war mit guten Gehältern und vielen Privilegien verbunden. Den Ärzten standen jeden Tag frisch gewaschene Kittel sowie Mäntel zur Verfügung, um in die Kantine zu gehen, die mit üppigen Mahlzeiten aufwartete. Auch ein „Laufbursche“ stand ihnen zu Diensten. Darüber hinaus konnten sie als Angehörige der US-Armee in den Post-Exchange-Läden (PX-Shops) Waren einkaufen, die aus den USA eingeführt wurden. 

Anatol arbeitete ein Jahr in dieser Klinik. Danach übernahm Danuta seine Stelle und blieb noch vier Jahre dort. Die Beschäftigung in der Militärklinik war für den beruflichen Werdegang der beiden Zahnärzte eine wichtige Etappe, wobei sie von den Amerikanern vor allem lernten, wie man gut zu Werke geht. „Die Organisation der Dental Clinic, ihre Effizienz und der großzügige Umgang mit Zeit und Material waren im Europa der Nachkriegszeit ungewöhnlich“, erinnert sich Anatol Gotfryd.[5] Amerikanische Experten hielten häufig Vorträge und präsentierten neue Heilungsmethoden.

Westberlin war von 1949 bis 1990 in drei Sektoren aufgeteilt, die unter der Kontrolle Großbritanniens, Frankreichs und der USA standen. Die alliierten Mächte gaben in der Stadt den Ton an. Das berufliche und private Leben der Gotfryds war vom Umgang mit den Amerikanern geprägt. Sie wurden zu rauschenden Festen eingeladen, besuchten den beliebten Offiziersclub im Harnack-Haus, das französische Kulturzentrum „Maison de France“ und die Hochschule der Kunst.

 

[5] Anatol Gotfryd, Der Himmel in den Pfützen ... , S. 220.

 

1959 wurde Anatol Gotfryd Assistent an der Zahnklinik der Freien Universität Berlin, wobei ihm sein Lebensglück erhalten blieb. Als Dozent wurde er verbeamtet und als sich herausstellte, dass Ausländer diesen Status nicht erlangen können, während der Verwaltungsakt nicht widerrufen werden konnte, erhielt Gotfryd die deutsche Staatsangehörigkeit. Kaum zwei Jahre nach seiner Ankunft in Berlin wurde er damit ordnungsgemäß deutscher Beamter. 

Zur damaligen Zeit war ein Pole jüdischer Abstammung an der Berliner Hochschule eine Ausnahmeerscheinung, die das Interesse der Hochschullehrer weckte. Seit dem Ende des Kriegs, in dem ein Teil der Dozenten in der Hitlerarmee gedient hatte, waren nur wenige Jahre vergangen, was die Kontakte mit den Kollegen nicht einfacher machte. Anatol Gotfrydäußerte sich dazuin dem im März2011 von Agnieszka Drotkiewicz für die Zeitschrift „Dwutygodnik“ geführten Interview: „Unter ihnen fühlte ich mich ein wenig wie ein Tier, das noch vor kurzem gejagt wurde. Ich hatte Schwierigkeiten, mich gut zu verständigen und herzliche Beziehungen zu den älteren Kollegen zu pflegen, also hielt ich eine gewisse Distanz.” [6]

1962 eröffneten die Gotfryds eine eigene Zahnarztpraxis. Ihre Entscheidung für die Selbständigkeit wurde durch das neue Reglement in der amerikanischen Klinik forciert, demzufolge dort nur noch Militärangehörige beschäftigt sein durften und nicht mehr -wie früher -auch deren Angehörige. Die neu gegründete Privatpraxis bot nun die Möglichkeit, einen Patientenstamm aufzubauen. Sie lag am Lehniner Platz, nur wenige Meter vom exklusiven und pulsierenden Boulevard Kurfürstendamm. In der unmittelbaren Nachbarschaft befanden sich elegante Boutiquen, Kinos, Klubs und Restaurants, später auch die berühmte „Schaubühne“. 

Anfangs behandelten die Gotfryds vor allem Amerikaner, bis nach und nach immer mehr Künstler zu ihren Patienten zählten. Einer der Ersten war Samuel Beckett. Anatol Gotfryd widmete den Freunden, Künstlern und Patienten sein zweites Erinnerungsbuch unter dem Titel „Der Himmel über Westberlin. Meine Freunde, die Künstler und andere Patienten“, erschienen 2017 im Quintus Verlag. Es enthält viele Anekdoten aus dem Berliner Kunstleben. Die Gotfryds behandelten unter anderem Günter Grass, Nena, Rainer Werner Fassbinder, George Tabori, Peter Zadek, Marika Rökk, Rebecca Horn, Markus Lüpertz, Katharina Thalbach, Harald Juhnke und andere mehr.

Einen Raum der Praxis richteten die Gotfryds als einen kleinen Salon für ihre Freunde ein, die auf einen Espresso und einen kleinen Plausch zu ihnen kamen. Sie fertigten dabei nicht selten Zeichnungen an, widmeten sich der Zeitungslektüre oder stöberten in den ausliegenden Katalogen. Im Gästebuch der Praxis hinterließen sie Eintragungen und Skizzen, die oft wahre Kunstwerke waren. Auf diese Weise entstand ein Zeugnis der Epoche, das 40 Jahre Berliner Kultur dokumentiert. Dort finden sich Andenken, die unter anderem an Marina Abramović, Heinz Otterson, Daniel Buren, Allan Kaprow, Rebecca Horn, Roman Opalka, Zbigniew Herbert, Gotthard Graubner, Gerd Rohling, Maria Lassnig, Heinz Trökes, Franz Gertsch, Sławomir Mrożek und Jurek Becker erinnern.

 

In der Zahnarztpraxis der Gotfryds gab es eine klare Arbeitsteilung. Danuta war für die Kieferchirurgie, die Parodontologie und die Kinderzahnheilkunde verantwortlich, Anatol für Prothetik und Zahnerhalt. „Bis heute treffe ich zufriedene Patienten, denen wir vor 45 Jahren Zahnprothesen angefertigt haben. Wenn sie mich sehen, wollen sie die herausnehmen und mir zeigen“, berichtet Anatol verschmitzt und fügt hinzu, dass die Herstellung so passgenauer Prothesen mit Goldelementen heute zu kostspielig wäre. Bei alledem boten die Eheleute Gotfryd als erste Zahnärzte in Deutschland auch professionelle Zahnprophylaxe an. Die Patienten waren über die schmerzlosen Injektionen entzückt. Anatol Gotfrydverrät,„es kam vor, dass sie ganz entspannt im Sessel schliefen“. Besonderen Wert legten die beiden Zahnärzte auf die Effizienz ihrer Arbeit. Wenn es geboten war, konnte die Behandlung eines Patienten den ganzen Tag in Anspruch nehmen. 

Die Praxis der Gotfryds war sehr modern. Sie hatte keine Behandlungszimmer, sondern sie bestand aus einem einzigen großen Raum. Die Patienten nahmen seinerzeit begeistert den ersten Zahnarztstuhl in Europa auf, den man in eine liegende Position versetzen konnte und den die Gotfryds aus Amerika importiert hatten. Das Zahnärztepaar sorgte auch für seine ständige berufliche Weiterbildung. Um neue Behandlungsmethoden kennenzulernen, famulierte Anatol im Urlaub in namhaften Zahnarztpraxen Europas, unter anderem im Südtiroler Meran bei Professor Federico Singer, einer Ikone der ZahnmedizinDanuta schloss noch ein Zusatzstudium der Psychotherapie ab, um die Ängste und das Verhalten der Patienten besser zu verstehen. 

Die Praxis am Lehniner Platz florierte. Die Gotfryds waren nicht nur hervorragende Zahnmediziner, sondern sie zogen ihre Patienten auch mit ihren persönlichen und gesellschaftlichen Qualitäten an. Beide sind äußerst warme, positive Persönlichkeiten, wissbegierig und an Menschen interessiert. Sie stecken mit ihrem Optimismus an, so dass nicht verwunderlich ist, dass viele Patienten zu ihren Freunden wurden. 

1967 bezogen Gotfryds ein Anwesen im Villenstadtteil Zehlendorf. In ihrem Privathaus traf sich die Crème de la Crème des künstlerischen Berlins. Jeden Montag wurden Soireenmit Billard- und Schachpartien gegeben, beide Betätigungen große Leidenschaften von Anatol Gotfryd. Zu Gast waren unter anderem der Komponist und Rektor der Berliner Musikhochschule Boris Blacher, der Maler und Bildhauer Markus Lüpertz, der Architekt und spätere Rektor der Akademie der Künste, Werner Düttmann, sowie der Präsidialsekretär der Akademie der Künste und Gründer des Künstlerhauses Bethanien, Michael Haerdter. Anatol Gotfryd war außerdem mit dem Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) Peter Nestler, und mit dem Gründer der Schaubühne, Jürgen Schnitthelm, befreundet, mit dem die Gotfryds 28 Jahre lang in einem Haus wohnten, sowie mit dem Direktor des Kupferstichkabinetts Alexander Dückers. Schach spielte Gotfryd auch mit George Tabori, dem ungarischen Dramatiker jüdischer Herkunft. 

Einen wichtigen Platz im Leben der Gotfryds nahmen jedoch nicht nur die Künstler ein, sondern auch die Kunst als solche. Die kulturellen Stätten Berlins wurden ihr zweites Zuhause. Anatol Gotfryd engagierte sich im Kuratorium der Freunde der Nationalgalerie und in der Graphischen Gesellschaft zu Berlin. Außerdem zählte er zu den Mitbegründern des Fördervereins Vereinigung der Freunde des Kupferstichkabinetts, deren stellvertretender Vorsitzender er auch war. 

1972 erwarben die Gotfryds ein Herrenhaus in Berlin-Nikolassee, das von dem preußischen Architekten Hermann Muthesius im englischen Landhausstil entworfen und errichtet wurde. „Den Restauratoren aus Poznań sei zu verdanken, dass wir das Haus retten konnten. Andernfalls hätte man es abgerissen“, erklärt Anatol Gotfryd. Der Kunstliebhaber schätzt in der Architektur die Proportionen. Die Villa Muthesius aus dem frühen 20. Jahrhundert stach gerade dadurch hervor.

Für Danuta, deren große Leidenschaft die Natur ist, ist das Zusammenspiel zwischen den Raumfunktionen, also dem Innen, und dem Außen wichtig. Sie hat mehrere Jahre Parks in England besichtigt, um einen englischen Garten in Berlin wiedererstehen lassen zu können. Sie meint, dass es in der Gartenkunst darum gehe, Außenanlagen in jeder Jahreszeit attraktiv aussehen zu lassen. Für diese stilechte Erhaltung wurde Danuta Gotfryd mit einer Medaille der Denkmalschutzbehörde geehrt. Bilder dieses Gartens publizierte der Architekt Günter Mader in seinem Buch über die Garten- und Landschaftsarchitektur des 20. Jahrhunderts in Deutschland. „Wenn man in ein fremdes Land reist, muss man dort ein Stück eigenen Grund und Boden besitzen, um sich wie zu Hause zu fühlen. Das schafft Verbindung zur Welt“, bekennt Danuta Gotfryd. 

In den langen Jahren der Emigration verloren die Gotfryds nie ihre Bindung zu Polen und zur polnischen Sprache. Sie empfingen gern polnische Intelektuelle, die nach Berlin kamen, so auch Zbigniew Herbert, der mit seiner Ehefrau bei ihnen wohnte. Eine herzliche Freundschaft verband sie mit Stanisław Mrożek, den sie auch in Paris besuchten. In ihrem Hause weilten Stanisław Lem, Władysław Bartoszewski, Ryszard Kapuściński und Roman Opałka. 1994 organisierte Anatol Gotfryd eine Ausstellung des letztgenannten Künstlers in der Nationalgalerie Berlin.

Die legendäre Praxis der polnischen Zahnärzte gab es bis zum Jahr 2000. Als Tolek, wie Anatol Gotfryd von seinen Freunden bis heute genannt wird, in den Ruhestand tritt, setzt er sich ein neues Ziel. Er will alle Menschen vor dem Vergessen bewahren, denen er auf seinem Lebensweg begegnet ist. Aus dem Zahnarzt wird ein Schriftsteller, der zwei erfolgreiche autobiographische Bücher herausgebracht hat. In ihnen offenbart er zum ersten Mal, während der Verfolgungen durch die Nazis mit dem Leben davon gekommen zu sein.Bis dahin wollte er nicht davon sprechen, „denn die Tatsache, verfolgt worden zu sein, hat etwas Entwürdigendes und Intimes (...)“[7] Seine Leseabenden in Berlin ziehen Scharen von Lesern, Freunden und Patienten an. 

Trotz der 60 Jahre, die Anatol Gotfryd in Berlin lebt, spricht er tadellos Polnisch, auch wenn er seine Bücher lieber in deutscher Sprache verfasst. Die besondere Leichtigkeit für Fremdsprachen hat er nach eigener Aussage aus Galizien mitgebracht und er fügt hinzu: „Als Kind habe ich ein paar Sprachen – Polnisch, Ukrainisch und Jiddisch – wie von selbst gelernt. Zu Hause sprachen die Eltern teilweise Deutsch. Meine Sprachkenntnisse habe ich mit der Muttermilch aufgesogen. Multikulti hat mich geprägt. 

Auf ein multikulturelles, kosmopolitisches Umfeld trafen die Gotfryds auch in Berlin, was die Integration und das Leben in der Fremde sicher erleichtert hat. Ab und zu empfindet Anatol immer noch eine Sehnsucht nach dem „fernen, polnischen Galizien“, doch er entschied sich, nie mehr dorthin zurückzukehren, da er die Welt, die er in seinen Erinnerungen bewahrt, nicht wiederfinden würde. Die Atmosphäre seiner Kindheit entdeckte er für sich im italienischen Ligurien, wo er jedes Jahr mit seiner Frau sechs Monate verbringt. 

Danuta und Anatol Gotfryd sind über 60 Jahre verheiratet. „Wir sind vollkommen verschieden. Ich denke mit dem Bauch, Danka hingegen mit dem Kopf. Aber alle, die uns kennen, glauben, dass es umgekehrt ist.[8] Wenn man sie nach dem Rezept für eine gelungene Ehe fragt, setzen sie auf Vertrauen, Freiheit und Individualismus. Weil sie immer anderer Meinung sind, langweilen sie sich nie. Anatol bringt seiner Frau jeden Morgen einen Tee ans Bett und liest ihr aus Büchern vor. Beide stimmen darin überein, dass Kunst und Literatur seit eh und je ihre Parallelwelt sind.

 

Monika Sędzierska, August 2018

 

[7] Anatol Gotfryd, Der Himmel in den Pfützen ... , S. 182.