Menu toggle
Navigation

Jesekiel David Kirszenbaum (1900–1954). Ein Bauhaus-Schüler

Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Mediathek Sorted

Mediathek
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Vermutlich durch Paul Citroen lernte Kirszenbaum den Herausgeber der Zeitschrift Der Sturm und Leiter der Sturm-Galerie, Herwarth Walden (1878-1941), kennen. Citroen hatte schon 1917 für Walden neben der Galerie in der Potsdamer Straße 134a die Kunstbuchhandlung Der Sturm eingerichtet und war im selben Jahr als Repräsentant des Sturms in die Niederlande gegangen. Im August 1917 publizierte Citroen in der Sturm‑Zeitschrift einen expressionistischen Essay über Marc Chagall.[17] Kirszenbaum jedenfalls bekam im April 1927 von Walden eine umfangreiche Ausstellung in der Sturm-Galerie, in der er 71 Kohle-, Kreide-, Tusche- und Aquarellzeichnungen sowie neun Ölgemälde zeigen konnte und zu der einer der üblichen kleinen Kataloghefte mit drei Abbildungen erschien (siehe PDF 1). Die Kritik sah einen deutlichen Einfluss von Marc Chagall auf Kirszenbaums Arbeiten. Ernst Collin (1886-1942 in Auschwitz ermordet), einer der Schriftleiter der linksliberalen, der DDP nahestehenden und im Mosse-Verlag erscheinenden Berliner Volks‑Zeitung, schrieb am 30. April in der Feuilleton-Spalte des zweimal täglich erscheinenden Blattes, die Motive der Zeichnungen und Aquarelle würden dreierlei verraten: „Erstens, dass er Russe, zweitens, dass er Jude ist, und drittens ein Jünger seines Landsmannes und Glaubensgenossen Marc Chagall. Die Seele des russischen Gettos ist in seinen Blättern. Nicht müde wird er, von alten bärtigen Juden, die den Talmud lieben, zu erzählen. Im nervösen Strich seiner Zeichnungen, in der farbigen Andeutung bei den Aquarellen zeigt sich – trotz aller Gebundenheit an Chagall – doch auch die Selbständigkeit eines überlegten stilistischen Ausdrucks.“[18]

Auch wenn spätere Arbeiten von Kirszenbaum (Abb. 49 . ) einen deutlichen Einfluss von Chagall zeigen, so reichen die wenigen aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg überlieferten Werke des Künstlers im Grunde nicht aus, um dies zu bestätigen. Sicher scheint, dass sich Kirszenbaum mit Chagall, den Walden 1913 in Paris kennen gelernt und der 1922/23 nur vorübergehend in Berlin gelebt hatte, durch die gemeinsame chassidische Herkunft verbunden fühlen konnte. Chagall schilderte neben vielen anderen Themen Rabbiner, Volkstypen und Szenen aus dem Alltag der Ostjuden. Im Mai 1917 erschienen in der Sturm‑Zeitschrift vier Zeichnungen von Chagall, von denen das Porträt eines Rabbis und eine Straßenszene mit einem Geiger[19] den späteren Arbeiten von Kirszenbaum, und zwar dem Gemälde „Disput“ im Sturm-Katalog (siehe PDF 1) und dem Geiger in der Zeitschrift Querschnitt (Abb. 14 . ), vom Sujet her verblüffend ähneln, stilistisch jedoch unterschiedlich sind. Bekanntestes Vorbild für Kirszenbaums Bildmotiv des am Tisch vor seinen Schriften sitzenden Rabbi dürfte jedoch Chagalls Aquarell „On dit“ aus dem Jahr 1921 gewesen sein, das in der Sturm‑Zeitschrift als Vierfarbendruck erschien[20] und seitdem vom Verlag Der Sturm durchgehend bis in die 1930er-Jahre als Kunstdruck vertrieben und in der Sturm-Zeitschrift beworben wurde.[21] Das Motiv entsprach bis auf geringe Abweichungen der ersten, 1912 entstandenen Fassung von Chagalls Gemälde „Der Rabbiner (Die Prise)“, dessen Zweitfassung aus dem Jahr 1926 von der Kunsthalle Mannheim angekauft, später von den Nationalsozialisten beschlagnahmt, ab 1937 in der Ausstellung Entartete Kunst gezeigt und schließlich 1939 auf einer Auktion in Luzern vom Kunstmuseum Basel ersteigert wurde.[22]

Die Titel der von Kirszenbaum 1927 in der Sturm‑Galerie gezeigten Arbeiten deuten bis auf wenige Ausnahmen auf Volkstypen, alltägliche oder religiöse Themen, wie der Künstler sie aus dem jüdischen Leben in Staszów, einem Städtchen mit seinerzeit rund neuntausend Einwohnern und über der Hälfte jüdischer Bevölkerung, kannte. Möglicherweise knüpfte Herwarth Walden an die Ausstellung mit ihm die Hoffnung, an die frühen Erfolge mit Chagall, dessen Werke er im Juni 1914 in der Sturm-Galerie gezeigt hatte, anknüpfen zu können.[23] Walden verfolgte in diesen Jahren aber auch mit großem Interesse die gesellschaftliche Entwicklung in der Sowjetunion, hatte selbst im Mai 1924 dazu aufgerufen, für die Liste der KPD zu stimmen, veröffentlichte in der Sturm-Zeitschrift regelmäßig Anzeigen der Gesellschaft der Freunde des Neuen Russland und reiste selbst 1927 aus Anlass des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution nach Moskau.[24] Nach der Rückkehr von seiner Reise, auf der er auch die podolische Kreisstadt Proskurow/Płoskirów (heute Chmelnyzkyj) besucht hatte, berichtete er in der September-Ausgabe des Sturms von den Segnungen des Bolschewismus.[25]

 

[17] Der Sturm, 8. Jahrgang, 5. Heft, Berlin, August 1917, Seite 68, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0074/image

[18] E.C.: Kunstwanderung. […] Kirschenbaum, in: Berliner Volks‑Zeitung, 75. Jahrgang, Nr. 202, Sonnabend, 30. April 1927, Morgen-Ausgabe, Seite 2, online-Ressource: http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/index.php?id=dfg-viewer&set%5Bimage%5D=2&set%5Bzoom%5D=default&set%5Bdebug%5D=0&set%5Bdouble%5D=0&set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Fcontent.staatsbibliothek-berlin.de%2Fzefys%2FSNP27971740-19270430-1-0-0-0.xml. Die Autorschaft von Ernst Collin (vergleiche Anmerkung 7) ist unstrittig, da dieser sich in dem von ihm verfassten Ausstellungs-Katalog zu Kirschenbaum 1931 in der Berliner Galerie Fritz Weber auf die frühere Rezension bezog.

[19] Der Sturm, 8. Jahrgang, 2. Heft, Berlin, Mai 1917, Seite 21 und 25, weitere Zeichnungen von Chagall auf Seite 23 und 27, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1917_1918/0027/image

[20] Der Sturm, 12. Jahrgang, 12. Heft, Dezember 1921, Seite 209, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1921/0261/image

[21] Werbeanzeige für farbige Kunstdrucke von Mark Chagall: Intérieur / Der Barbier / Kutscher / On dit (Jude) / Akt / Aquarell, Der Sturm, 13. Jahrgang, 5. Heft, Berlin, Mai 1922, Seite 81, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1922/0105/image; 17. Jahrgang, 12. Heft, Berlin, März 1927, Rückumschlag, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1926_1927/0246/image; 20. Jahrgang, 8. Heft, Berlin August/September 1930, 4. Umschlagseite.

[22] Christoph Zuschlag: „… eines seiner stärksten Bilder“. Das Schicksal des „Rabbiners“ von Marc Chagall, in: Uwe Fleckner (Herausgeber), Das verfemte Meisterwerk. Schicksalswege moderner Kunst im „Dritten Reich“ = Schriften der Forschungsstelle Entartete Kunst, 4, Berlin 2009, Seite 401-426

[23] Goudz 2012 (siehe Literatur), Seite 535

[24] Georg Brühl: Herwarth Walden und „Der Sturm“, Leipzig, Köln 1983, Seite 71, 77

[25] „ … hier ist kein Land der Zerstörung. Die USSR ist ein Land des Aufbaus. Ein Land der Arbeit. Und ein Land der Sehnsucht nach Menschenglück.“ Herwarth Walden: USSR 1927, in: Der Sturm, 18. Jahrgang, 6. Heft, Berlin, September 1927, Seite 73-75, online-Ressource: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/sturm1927_1928/0082/image