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Jesekiel David Kirszenbaum (1900–1954). Ein Bauhaus-Schüler

Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

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Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm
Selbstporträt, um 1925. Öl auf Leinwand, 55 x 37,5 cm

Von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs war Kirszenbaum, das belegen die wenigen aus diesen Jahren erhaltenen Informationen und Werke, aktives Mitglied der École de Paris. Bezeichnet werden mit diesem Terminus kein einheitlicher Kunststil und keine geschlossene Künstlergruppe, sondern die Gesamtheit der französischen, vor allem aber der ausländischen Künstler, die seit der Wende zum 20. Jahrhundert von Paris aus die zeitgenössische Kunst prägten. Zu den französischen Künstlern wie Derain, Matisse, Braque, Rouault oder Léger, die sich im Stadtviertel Montparnasse angesiedelt hatten, kamen in mehreren Einwanderungswellen Künstler aus Spanien, Italien, den Niederlanden, Deutschland und Südamerika, in größerer Zahl aber aus osteuropäischen Ländern wie Russland, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei, Rumänien und Ungarn, die auf dem Montparnasse mit seinen zahlreichen Ateliers und Cafés ein lebendiges Künstlerviertel bildeten.

Erst in jüngerer Zeit ist wieder darauf hingewiesen worden, dass ein großer Teil der ausländischen Künstler jüdischer Herkunft war. Zu ihnen gehörten zu unterschiedlichen Zeiten Henryk Berlewi, Marc Chagall, Henri Epstein, Otto Freundlich, Moise Kisling, Moise Kogan, Roman Kramsztyk, Rudolf Levy, Jacques Lipchitz, Louis Marcoussis, Amedeo Modigliani, Mela Muter, Jules Pascin, Issachar Ryback, Lasar Segall, Chaim Soutine, Marek Szwarc, Ossip Zadkine und viele andere. Man geht von etwa 500 Künstlern aus, die in der Zwischenkriegszeit aufgrund antisemitischer Verfolgung und schwieriger persönlicher oder politischer Lebensumstände aus ihren Heimatländern nach Paris gingen und von denen rund 180 größere Bedeutung erlangten.[71] Nach Hitlers Machtergreifung flohen aus Deutschland der in Vilnius geborene Bauhaus-Schüler Moses Bagel und die aus Polen stammenden Künstler Jankel Adler und Kirszenbaum sowie der aus Łódź stammende Maler Jacob Markiel nach Paris. Von den bekannteren Künstlern starben, so Claude Lanzmann, 71, das sind 40 Prozent, in den Gaskammern der auf polnischem Gebiet gelegenen deutschen Konzentrationslager.[72]

Nur wenige dieser Künstler wandten sich ausgesprochen jüdischen Bildthemen zu: Chagall, Kirszenbaum, Ryback, der aus Stanisławów stammende Arthur/Artur Kolnik und der in der Ukraine geborene Emmanuel Mané-Katz. Kirszenbaum, der viel Zeit in den Pariser Museen und Galerien verbrachte, um die älteren und modernen französischen Meister zu studieren und der mit Georges Rouault befreundet gewesen sein soll,[73] schuf in der Zeit von 1933 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs rund 600 Gemälde. Sie wurden nach dem Einmarsch der Deutschen in Paris von diesen in seiner Wohnung konfisziert und zerstört.[74] Damit hatte der Künstler zum zweiten Mal sein bisher geschaffenes Werk verloren.

Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden Kirszenbaum und seine Frau interniert und dabei voneinander getrennt. Er wurde im Lager von Meslay-du-Maine östlich von Rennes festgehalten, in dem von September 1939 bis Juni 1940 zweitausend deutsche und österreichische Zivilisten aus der Region Paris interniert waren und das beim Vormarsch der Deutschen geräumt wurde. Anschließend wurde er in ein Arbeitslager für Ausländer im Dorf Saint-Souveur bei Bellac im Département Haute-Vienne verlegt. Dort konnte er offenbar 1942 fliehen und sich bis zum Kriegsende verstecken.[75] Helma Kirszenbaum war bis zum Juni 1940 im Internierungslager Camp de Gurs in Südfrankreich unweit der spanischen Grenze inhaftiert, wurde dann entlassen, blieb aber zunächst in Gurs, um auf ihren Mann zu warten.[76] Vermutlich ist sie später wieder nach Paris zurückgekehrt. Sie wurde Ende 1943 verhaftet und kam in das Sammel- und Durchgangslager Drancy 20 Kilometer nordöstlich von Paris, aus dem 65.000 vorwiegend französische Juden in die Vernichtungslager verschickt wurden. Von dort wurde sie am 20. Januar 1944 ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert und ermordet.[77]

Auch während seiner Lagerhaft und im Untergrund war Kirszenbaum künstlerisch tätig. Im Winter 1939 schuf er eine spätimpressionistisch und vorwiegend in Grautönen gemalte „Landschaft mit Kirche“, die sich heute im Israel Museum befindet,[78] 1940 die Ansicht eines bäuerlichen Anwesens im Frühling.[79] 1941 malte er in Bellac in ähnlicher Technik einen Holzsammler in winterlicher Landschaft, den er dort gesehen haben kann und der vermutlich kein Erinnerungsbild aus Staszów ist.[80] Eine Serie von Stillleben mit Blumensträußen in bauchigen Vasen scheint in der Konzentration auf die Farbe und der seriellen Abstraktion von den Fauves, vielleicht von de Vlaminck, beeinflusst.[81] 1942 entstanden Erinnerungsbilder an Staszów: ein „Jude auf winterlicher Straße“[82], ein „Wasserträger aus Staszów“ (Abb. 42 . ) und das Gemälde „Der Messias und die Engel erreichen das Dorf“ (Abb. 43 . ), das wiederum das christliche Bildthema „Jesu Einzug in Jerusalem“ beziehungsweise die Adaption von Ensor in den jüdischen Alltag verlegt und auf dem der Maler sich selbst (unten links) porträtierte, wie er mit Pinsel, Palette und Staffelei die Szene im Bild festhält. Die letzteren drei Gemälde zeigen spätimpressionistische Malerei in Grau- und Brauntönen und sind vermutlich wiederum nur die wenigen überlieferten Beispiele eines weitaus umfangreicheren Werks, das verloren gegangen ist.

 

[71] Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 397. Die Forschungen von Nadine Nieszawer, die darauf hinweist, dass die jüdische Herkunft der großenteils international bekannten Künstler bislang kaum Erwähnung gefunden hat, beruhen auf früheren Arbeiten von Chil Aronson: Bilder und geshtaltn fun Monparnas/Scènes et visages de Montparnasse. Vorwort von Marc Chagall, Paris 1963, und Hersh Fenster: Undzere farpaynikte kinstler. Vorwort von Marc Chagall, Paris 1951

[72] Claude Lanzmann: Vorwort, in: Nieszawer 2015 (siehe Literatur), Seite 396

[73] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 59, 66

[74] Brief vom 20.4.1945 (siehe Anmerkung 57)

[75] Ebenda

[76] Brief Helma Kirszenbaum an ihren Mann vom 1.7.1940 aus Gurs; Postkarte Jesekiel Kirszenbaum an seine Frau vom 26.7.1940 aus Saint-Sauveur bei Bellac, ausgestellt in der Ausstellung Jesekiel Kirszenbaum 2019 im Zentrum für verfolgte Künste, Solingen; vergleiche den Bericht auf diesem Portal, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 8; die Postkarte abgebildet in J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 78

[78] Landschaft im Winter mit Kirche, 1939, Israel Museum, Jerusalem, https://www.imj.org.il/en/collections/193211

[79] Vergleiche auf diesem Portal die Solinger Ausstellung, https://www.porta-polonica.de/de/atlas-der-erinnerungsorte/jesekiel-kirszenbaum-ausstellung-solingen, Abbildung 25

[80] J.D. Kirszenbaum 2013 (siehe Literatur), Seite 34, https://www.kirszenbaum.com/early-period?lightbox=imagebsv

[81] Ebenda, Seite 58, 61

[82] Ebenda, Seite 72