Stefan Szczygieł. Das fotografische und filmische Werk
Mediathek Sorted
ZEITFLUG - Hamburg
ZEITFLUG - Warschau
Und noch etwas ist auffallend und entscheidend für die Qualität der Filmwerke. Die Passanten und Protagonisten scheinen die Kamera des Künstlers während der Aufnahmen nicht wahrgenommen zu haben. Niemand schaut in die Linse, fühlt sich beobachtet oder reagiert bewusst darauf, gefilmt zu werden. Kein Winken, kein unsicherer Blick, kein sich Abwenden, obwohl Szczygieł teilweise den Menschen extrem nahekommt. Die Kamera zeigt (ohne Benutzung eines Teleobjektivs) den Oberarm eines Mannes, die Hände einer in einem Buch lesenden Frau und das altersfaltige Gesicht eines Obdachlosen. Oberflächen von Objekten bekommen wir ebenso zu sehen wie den Stoff des Kopftuchs einer jungen Frau, sowie die Oberfläche einer Brunnenskulptur. Vielmehr bewegen sich die Städter in der gewöhnlichen Normalität und unbeobachteten Gelassenheit, als sei die Kamera unsichtbar, gar nicht existent. Die Verbindung der Natürlichkeit des Seins mit dem Verhalten der Menschen auf der Straße, unabhängig von deren Tätigkeit und der Art und Weise, wie Szczygieł mit seiner Kamera operiert, macht die gefilmten Personen in ihrer Verlangsamung teilweise zu Standbildern im doppelten Sinn, quasi zu Skulpturen und Momentaufnahmen, zu einem Bestandteil der urbanen Architektur.
Durch den Wechsel und die Teilung der Leinwand in bis zu vier gleichwertig neben- und übereinander sich abspielende Geschehnisse und Verdopplungen kreiert der Künstler immer wieder neue Beziehungsgeflechte. Die Stadt ist hier wahrlich im Fluss. Unterstützt wird die Entschleunigung, der Gesamtrhythmus und das zeitliche Fließen durch passgenaue elektronische Ambient- und Downtempo-Musik, die als Auftrag an den polnischen Komponisten Wojciech „Olo“ Olszewski ging. Geschickt verwendet der Elektroniker, Texter und Produzent aber auch die Klänge der realen Stadt und integriert diese subtil ins Geschehen: Kinderlachen, Hafengeräusche, Handyklingeln, Grundrauschen, Fahrradschellen, Vogelgezwitscher, Hupen, Stimmengewirr ...
Leider konnten weder das aufwändige Projekt der Urban Panoramas noch die Filme aus der begonnenen Serie ZEITFLUG durch den plötzlichen Tod Stefan Szczygiełs zu Ende geführt und in weiteren Städten (außer Warschau) vorgeführt bzw. zur Diskussion gestellt werden. Sein Werk bleibt somit fragmentarisch, obwohl ein kontinuierlicher inhaltlicher roter Faden deutlich erkennbar ist.
Zu hoffen bleibt, dass der frühe Tod des Fotografen für sein künstlerisches Werk nicht bedeutet, dass es in Vergessenheit gerät, war Stefan Szczygieł doch mit seiner Arbeit ein feinfühliger, visionärer, sozialkritischer, verbindender und kulturell wissbegieriger Wegbereiter der zeitgenössischen Fotografie, ein Bilderwandler zwischen der realen, digitalen und virtuellen Welt. Transkulturell und verbindend ist Szczygieł überdies in seiner selbstverständlichen sprachlichen Nutzung im Dreieck zwischen Polnisch, Deutsch und Englisch.
Als Fotograf hielt sich der entdeckungsfreudige, innovative, technisch versierte und die Welt vernetzende, wenn nicht voraussehende, so doch sicher ihr zugewandte Künstler polnischer Herkunft stets an einen griechischen Eid, den Baukünstler, Architekten und Stadtplaner in der hellenischen Antike schworen und der einen festen Vorsatz formuliert, der als Szczygiełs eigener Leitspruch gelten könnte: „Ich werde diese Stadt schöner verlassen, als ich sie betreten habe“.
Claus Friede, April 2017