Stefan Szczygieł. Das fotografische und filmische Werk
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Urban Panorama
Schließlich führen die Urban Spaces zu einer Untergruppe: zu riesigen von Szczygieł mit Urban Panoramas[12] bezeichneten Großfotos. Diese Panoramafotos werden im Außenraum präsentiert, oft an Orten in der Nähe oder exakt am Ort ihrer Ablichtung.
Das Konzept sieht vor, in regelmäßigen Abständen die fotografischen Stadtszenen auszuwechseln. Begonnen werden sollte mit jenem Foto, was vor Ort gemacht wurde, nach ein paar Wochen sollte eine neues, gleichformatiges Foto aus einer anderen Stadt dort wetterfest installiert werden. Dadurch bildet sich nicht allein die Stadt in einem vergangenen Moment ab, sondern zudem eine andere Stadt, in einem anderen Land – eine Stadt in der Stadt. Diese überdimensionalen Fotos konstruieren zunächst eine Gegenüberstellung von zeitlicher, räumlicher, urbaner Verbundenheit mit der eigenen Stadt, um kurze Zeit später ein anderes Gegenüber zu bekommen. Vergleichbar mit den Blow Ups provoziert Szczygieł auch hier ein Überdenken der Gegebenheiten, das Hinterfragen der Wechselbeziehung von Wahrnehmung und Benutzung. Die Urban Panoramas bilden eine noch deutlichere Konfrontation heraus, wenn eine andere Stadt ins Spiel kommt. Durch die gigantische Größe sind die Panoramafotos in einer adäquaten Proportion zur Stadt und den Passanten austariert und können nicht als Modelle oder verkleinerte Anschauungen gelesen werden.
Dadurch wird eine gelernte Identifikation aufgebaut: Schon die europäische Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts und die Landschaftsbilder der Filmkultur in „Scope“-Formaten[13] des 20. Jahrhunderts haben diese und weitere ikonographischen Assoziationen hervorgerufen, was dazu führt, dass die Betrachter sich selbst in die Landschaft hineinprojizieren. Sie versetzen sich entsprechend ihrer eigenen Perspektive und Größe in die Landschaft hinein – oder präziser gesagt in die „Stadtlandschaft“. Wir verbinden uns somit mit der Stadt per se und mit allen Bildbestandteilen der Fotos, nur dass wir diese nicht zu Fuß oder mobil durchqueren, sondern mit den Augen. Stefan Szczygieł war es allerdings auch äußerst wichtig, darauf hinzuweisen (und das funktionierte mit der Wahl der fotografierten Ausschnitte und der Auswechslung der Fotos von einer anderen Stadt wie Paris beispielsweise besonders zielgenau), dass Landschaftsmalerei und -fotografie als Kunstform sowie die fotografischen dokumentarischen Abbilder von städtischen Räumen als Entdeckungen von Manipulationen verstanden werden müssen.
Die Geometrie einer Stadt ist in seinen Augen immer Manipulation. Das gilt nicht allein für die Benutzung der Formensprache der Natur: vom Steinbruch über den Jugendstil bis in die heutige Zeit, wenn sich Nachbarbauten, Parks, Himmel und Wolken in Glaspalästen spiegeln und uns eine Materialsimulation ein natürliches Produkt vorgaukelt. Es geht ihm um die Manipulation von Kommunikation. Szczygiełs Werke führen beim Betrachter zu Fragen wie: Welches ist das höchste Gebäude, von wem wurde es errichtet, in welchem Richtungsverlauf sind Straßen angelegt und welche Bauten wurden dort errichtet, an welchen Stellen überqueren Brücken den Fluss und welche Denkmale sollen woran und an wen erinnern? Welche Größe, Breite muss eine Straße, eine Avenue oder ein Boulevard haben, welche Funktionen hatten sie ursprünglich und welche davon haben sich im Laufe der Jahrhunderte verschoben? Was bedeutete die Individualisierung von Architekturstilen und monolithischen Einzelbauten? Was macht die Großbildwerbung mit der Stadt und mit uns und was städtische Beleuchtung und Lichtverschmutzung?
Zudem wird der Begriff Raum bei Szczygieł nicht nur analog, sondern insbesondere technisch digital und geistig virtuell verwendet und kreiert somit alles was vorstellbar ist – auch die nicht mehr (sofort) erkennbare Manipulation. Das Bild Warschau, Przystanek tramwajowy (dt.: „Straßenbahnhaltestelle“) ist ein gutes Beispiel für diese surreale, aber auch politische und gesellschaftliche Irritation, denn der nächtliche orange-braun beleuchtete Platz mit einer Straßenbahnhaltestelle ist dominiert von Großplakaten, Werbung, Firmenlogos und Schriftzügen, die wie hineinkopierte Fremdkörper wirken und den architektonischen Raum fast vollständig auflösen. Der Platz suggeriert, dass das Zentrum der polnischen Hauptstadt zum übermächtigen Konsumraum geworden ist. Alle Signets, Poster und Transparente schweben weithin sichtbar über der Architektur. Wie in US-amerikanischen (Universitäts-) Bibliotheken, in denen häufig Portraits der Präsidenten über den Bücherregalen aufgehängt sind, um uns glauben zu machen, diese Herren seien die Wächter des Wissens, so werden bei diesem Bild unsere Gedanken darauf gelenkt, dass die Unternehmen und ihre kostspielige Werbung die Wächter und Beherrscher der Stadt sind.
[12] Szczygiełs Ausstellungsformate für Innenräume liegen meistens im Bereich bei 80 x 120 cm (die technische Begrenzung damals betrug 120 x X cm). Die Panoramafotos hingegen hatten ein Format von 5.000 x 18.000 cm in Hochauflösungstechnik von 3 Milliarden Pixeln.
[13] Breitbildaufzeichnung im Verhältnis 2,66:1. Durch die große Verbreitung ab den 1950er-Jahren ist Scope in der Kinowelt zum Synonym für alle anamorphotischen Verfahren geworden. Vgl.: Lexikon der Filmgeschichte, http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?action=lexikon&tag=det&id=106.